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Die Demokratie als Sieger

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Analyse: Erdogans Machtfantasien wurden nicht erfüllt, die Kurden sind in der gesellschaftlichen Mitte der Türkei angekommen.


Ankara. Am Morgen nach der Niederlage schwieg er lange - der Mann, der sonst immer und zu allem etwas zu sagen hat. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan brauchte eine Weile, bis er sich äußerte und die politischen Parteien des Landes dazu aufrief, "verantwortlich mit dem Wahlergebnis umzugehen". Sein Zögern war verständlich. Denn die Bürger haben ihm bei der Parlamentswahl am Sonntag erdrutschartig das Vertrauen entzogen und das Ende seines politischen Aufstiegs eingeleitet.

Erdogan hatte die Wahl zum Referendum über ein autoritäres Superpräsidialsystem erklärt. Das Volk hat der Idee eine klare Absage erteilt, obwohl er sich verfassungswidrig in den Wahlkampf einmischte und gewaltige staatliche Mittel dafür einsetzte. Die Bürger haben sich auch reifer und klüger gezeigt als ihre Repräsentanten von der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, die jeden Winkelzug des Präsidenten unkritisch bejubelten. Der Gewinner dieser Wahl ist deshalb vor allem das politische System der Türkei. Es hat sich als widerstandsfähig erwiesen. Der Parlamentarismus ist gestärkt worden.

Die türkische Demokratie ist auch deshalb gestärkt worden, weil die wichtigsten Segmente der Bevölkerung trotz der undemokratischen Zehnprozenthürde erstmals einigermaßen gerecht im Parlament repräsentiert sind. Mit fast 13 Prozent der Stimmen und 80 Abgeordneten hat die linke, prokurdische HDP als erste kurdische Partei die Sperrklausel überwunden und den Einzug ins Parlament in Ankara geschafft. Diesen Erfolg verdankt sie wesentlich einem Geniestreich ihres charismatischen Spitzenkandidaten Selahattin Demirtas, der die Partei für andere Minderheiten öffnete und den Schulterschluss mit der Erdogan-kritischen Gezi-Protestbewegung vollzog. Damit machte er die HDP wählbar für junge Leute, die für eine bessere Umwelt, Pluralität und freiheitliche Demokratie, für offenere Sexualität und zivilgesellschaftliches Engagement eintreten.

Strukturell gespalten

Indem Demirtas die traditionellen HDP-Anhänger erfolgreich aufrief, allen gegen die Partei gerichteten Bombenanschlägen zum Trotz die Ruhe zu bewahren, ließ er zudem alle Provokationen ins Leere laufen. Gleichzeitig gelang es ihm, konservativ-religiöse Kurden von der Wahl der HDP zu überzeugen. Im kurdischen Osten und Südosten des Landes haben sich frühere AKP-Wähler fast geschlossen von der AKP abgewendet und der HDP 90-Prozent-Ergebnisse beschert. Ihre starke Vertretung im Parlament ist eine Zeitenwende für die Türkei, damit sind die jahrzehntelang unterdrückten Kurden politisch in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Der Wahlerfolg macht sie als politische Kraft im gesamten Land sichtbar, die niemand mehr ignorieren kann.

Durch den Erfolg der Kurdenpartei verschieben sich die Kräfteverhältnisse dramatisch: Die HDP ist im Parlament jetzt ebenso stark vertreten wie die ultranationalistische MHP, die ebenfalls von den Verlusten der AKP profitierte. Zugleich zeigt der Wahlausgang, dass die Türkei ein gespaltenes und strukturell mehrheitlich konservatives Land bleibt, mit AKP und MHP auf der rechten und HDP sowie der sozialdemokratischen CHP auf der linken Seite des politischen Spektrums. Auch die geografische Dreiteilung hat sich kaum verändert: Im Westen und Süden siegte die CHP, in der Mitte und am Schwarzen Meer die AKP, im Osten und Südosten die HDP.

Schwierige Regierungsbildung

Der Erdrutschsieg der HDP in den ostanatolischen Kurdengebieten hat einen ironischen Beigeschmack, weil Erdogan selbst es war, der eine Lösung des Kurdenproblems auf die politische Agenda hob, die kurdische Sprache entkriminalisierte und kurdische Fernsehsender zuließ. Doch hat er die Ernte nicht eingefahren, die er selbst einst säte. Denn er verlor die Unterstützung der Kurden vor allem aus zwei Gründen: Weil er die von der Terrormiliz Islamischer Staat belagerte syrische Kurdenstadt Kobane im vergangenen Oktober als "verloren" bezeichnete und weil er im Wahlkampf plötzlich erklärte, es gebe in der Türkei "kein Kurdenproblem". Seine Kehrtwende empfanden viele Kurden als Verrat und als Aufkündigung des Friedensprozesses mit der Kurdenguerilla PKK, den Erdogan selbst begonnen hatte.

Jetzt geht es darum, was aus dieser Wahl im EU-Beitrittsland Türkei folgt. Wird die AKP eine Minderheits- oder eine Koalitionsregierung bilden - und wenn, mit wem? Vor allem der rechten MHP, die sich politisch am ehesten mit der AKP verträgt, fällt die Rolle des Königsmachers zu. Es könnte aber auch ganz anders kommen, wenn sich die drei Oppositionsparteien dazu durchringen, eine gemeinsame Regierung zu bilden. Man kann das Wahlergebnis auch als Auftrag der Bürger zum Kompromiss verstehen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass vorzeitige Neuwahlen angesetzt werden. Die Türkei geht unruhigen Zeiten entgegen.