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"Die Leute bereuen, was sie getan haben"

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Die Spaltung der Türkei zeigt sich auch nach der Wahl deutlich. Die einen sehen die AKP-Schlappe als Befreiung, die anderen als Irrtum.


Istanbul. "Wir sind überglücklich" oder "Das ist eine absolute Katastrophe" - zwischen diesen extremen Gefühlen schwanken die Türken am Tag zwei nach der Schicksalswahl vom Sonntag. Während die einen sich wie befreit vorkommen, sind die anderen zu Tode betrübt über das Ergebnis, mit dem die Wähler der seit 13 Jahren regierenden islamisch-konservativen AKP und dem übermächtigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan eine klare Abfuhr erteilten. Bei der letzten Parlamentswahl 2011 hatte die AKP noch fast die Hälfte der Stimmen geholt, diesmal stürzte sie unter 41 Prozent und kann nicht mehr allein regieren.

"Ich hätte das niemals für möglich gehalten", sagt die 18-jährige Schülerin Hidra Ferdanu, die im Zentrum Istanbuls auf dem Taksim-Platz auf ihre Freundinnen wartet, um einkaufen zu gehen. Mit ihrem Kopftuch und dem langen Jeansrock ist die zierliche junge Frau schon äußerlich als gläubige Muslimin zu erkennen. Am Sonntag hat sie ihre Stimme der Partei gegeben, die in ihrer Familie alle wählen: der AKP. "Ich bin total unglücklich und kann nicht begreifen, wie dieses Ergebnis zustande kam", sagt sie. "Ich würde nie eine andere Partei wählen, denn ich liebe die AKP und unseren Präsidenten."

Nur eine Erklärung für die Niederlage fällt Hidra Ferdanu ein: Die Wähler wurden untreu, weil Erdogan die Partei nicht mehr anführt, sondern im letzten Jahr zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Den Wahlerfolg der linken prokurdischen HDP, die mit 13,1 Prozent und 80 Abgeordneten in das 550-Sitze-Parlament in Ankara einzieht, hält sie für katastrophal. "Diese Partei besteht aus Terroristen. Sie haben nur deshalb so viele Stimmen bekommen, weil die Terrororganisation PKK die Menschen unter Druck gesetzt hat."

Dass es am Dienstag in der HDP-Hochburg Diyarbakir bei Zusammenstößen zwischen Anhängern der verbotenen kurdischen PKK und der verfeindeten islamistischen Partei Hüda-Par vier Tote gegeben hat, dürfte Ferdanus Meinung wohl noch verstärken. Unmittelbar vorausgegangen war den Krawallen die noch völlige im Dunklen liegende Ermordung von Aytac Baran, der eine Hilfsorganisation mit engen Verbindungen zur Hüda-Par geleitet hat.

Hidra Ferdanu wünscht sich nun möglichst schnelle Neuwahlen, weil dann die AKP wieder die absolute Mehrheit gewinnen würde. Da ist sie sich ganz sicher: "Die Leute bereuen jetzt, was sie getan haben."

"Die HDP zerstört alles"

Viele Passanten, Händler und Handwerker auf dem Taksim-Platz sind tief verunsichert. Und nicht wenige glauben wie Hidra Ferdanu, dass die Kurden schuld sind am heraufziehenden Chaos. "Die HDP zerstört alles", diese Meinung vertritt der Schuhputzer Mehmet, 45, der seinen Putzkasten vor der Filiale der Kaffeekette Starbucks aufgebaut hat. Er hat zwar die sozialdemokratische CHP gewählt, die rund 25 Prozent der Stimmen gewann, hätte sich aber trotzdem eine Fortsetzung der AKP-Alleinherrschaft gewünscht, weil dann Ordnung und Sicherheit herrschten.

Mehmet überlegt einen Moment. Dann sagt er, in Wahrheit trage der Präsident die Schuld an dem undurchsichtigen Wahlergebnis, das keiner Partei die absolute Mehrheit brachte. "Er hat den Kurden Versprechungen gemacht, die er nicht einhielt. Deswegen haben sie sich von ihm abgekehrt." Tatsächlich zeigen Wahlanalysen, dass der Erfolg der HDP wesentlich auf Stimmen konservativer Kurden beruht, die früher AKP wählten. Mehmet wirft Erdogan außerdem vor, dass er die Menschen zu einem Präsidialsystem zwingen wollte, das vielen nicht geheuer sei. Jetzt müssten die Parteien das Beste aus dem Ergebnis machen: eine große Koalition von AKP und CHP, die das Volk versöhne.

Noch haben die Koalitionsverhandlungen aber noch gar nicht begonnen. Ihre prinzipielle Gesprächsbereitschaft haben die Vertreter aller vier ins Parlament gewählten Parteien zwar schon bekundet - das Problem sind jedoch die Bedingungen, die sie stellen. So vertreten die Nationalreligiösen von der AKP und die eher säkularen Nationalisten von der MHP viele gemeinsame konservative Werte und wären natürliche Koalitionspartner, doch scheinen ihre Standpunkte in der Kurdenfrage unüberwindbar. Die AKP will die Friedensverhandlungen fortsetzen, die MHP will ihn stoppen. Die Wähler sind da möglicherweise weiter. Zum Beispiel Rami Mutlu, 65, Metallarbeiter im Ruhestand. Der dürre Mann mit Brille und schlechten Zähnen hat früher für die AKP gestimmt und diesmal für die MHP, die ebenso viele Mandate wie die kurdische HDP gewann. Er wäre kompromissbereit. Obwohl er die MHP wählte, wünscht sich Rami Mutlu deshalb eine große AKP-CHP-Koalition. "Wir brauchen nicht noch mehr Polarisierung. Chaos ist schädlich für das Land und vor allem für die Wirtschaft."

"Neuwahlen für Normalität"

Diesen Satz würden sicher alle Geschäftsleute am Taksim-Platz und in der angrenzenden Fußgängerzone Istiklal Caddesi unterschreiben. Der 34-jährige Filialchef der Baklava-Süßwarenkette Seyidoglu betrachtet das Wahlergebnis vor allem vom Standpunkt des Kaufmanns. "Ich bin sehr unglücklich", sagt er, "denn die Wahlen haben uns Unsicherheit gebracht. Die Türkei hat wirtschaftliche Probleme, die sich jetzt noch verstärken werden." Er glaubt, dass die Türken einfach nicht überlegt haben, was sie sich mit einer Abwahl der AKP einhandeln. "Türkische Wähler sind wie Fußballfans, die nur ihr Team unterstützen und nicht an das große Ganze denken." Deshalb möchte der Geschäftsmann schnellstmöglich Neuwahlen: "Dann herrscht wieder Normalität, weil die Leute zur Besinnung kommen und die AKP wieder wählen. Die Leute wollen eine starke Partei und kein Chaos."

Drei 20-jährige Studenten, die gerade in einer Seitengasse der Istiklal Caddesi Tee trinken, würden ihm da vehement widersprechen. Obwohl sie keine Kurden sind, haben sie alle für die prokurdische HDP gestimmt, weil sie Erdogans autoritäre Politik satt haben. "Der Präsident stürzt unser Land ins Chaos, nicht die Wähler", sagt Bahadir Vatan, der Umwelttechnik studiert. "Die Menschen wollen Demokratie, keine Diktatur. Deswegen haben sie gegen Erdogan gestimmt."