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"Es ist noch nicht vorbei"

Von Veronika Eschbacher

Politik
Ein georgischer Dorfbewohner steht vor von russischen Soldaten errichtetem Stacheldraht, an dem georgische Sicherheitskräfte postiert sind.
© reu

Verteidigungsministerin Georgiens über Geduld mit Russland und den Preis für Nato-Ambitionen.


Der Konflikt in der Ostukraine beunruhigt auch die Südkaukasusrepublik Georgien. Seit dem Kaukasuskrieg 2008 ist Russland massiv in den beiden von Georgien abtrünnigen Gebieten Südossetien und Abchasien präsent. Laut Beobachtern gibt es in Abchasien 24, in Südossetien 19 russische Militärbasen mit insgesamt zwischen 6000 bis 10.000 russischen Soldaten. Auch wenn es an der Grenze zu den beiden Gebieten ruhig ist, wühlen die Georgier Aussagen auf politischer Ebene auf. Der russische Präsident Wladimir Putin etwa sprach im Dezember davon, dass Russland nie die Absicht gehabt habe, den Transkaukasus zu verlassen. "Im Gegenteil, wir sind dabei, unsere Position zur stärken." Aber auch innenpolitische Versäumnisse machen Georgien angreifbar. So beklagt die armenische Minderheit, sie werde gesellschaftlich nicht eingebunden und als Sicherheitsrisiko betrachtet. Gleichzeitig wird offenbar auch innerhalb der Regierung um den Kurs Georgiens gerungen, was zu zahlreichen Minister-Rücktritten führte. Die "Wiener Zeitung" sprach mit der mittlerweile dritten Verteidigungsministerin des aktuellen Kabinetts, Tinatin Chidascheli, über die Herausforderungen.

"Wiener Zeitung": Frau Chidascheli, Ihre Regierung hat einen weit pragmatischeren Kurs gegenüber Russland eingeschlagen als die Vorgängerregierung. Es gibt wieder mehr Handel, kulturellen Austausch mit Moskau. Sehen Sie auch Früchte dieses russlandfreundlicheren Kurses auf Sicherheitsebene?Tinatin Chidascheli: Nein, es gibt keine Verbesserungen, eigentlich nur das Gegenteil. Der Krieg in der Ukraine betrifft uns mehr oder weniger gleich wie die Ukraine mit der Ausnahme, dass wir keinen offenen Krieg haben. Ja, wir haben von uns aus erklärt, dass Georgien eine Strategie der Geduld verfolgt. Wir haben auch in den zweieinhalb Jahren seither bewiesen, dass wir uns daran halten. Wenn man für die Sicherheit der Menschen verantwortlich ist, darf man sich nicht ärgern. Das begreift die heutige Regierung.

Kürzlich wurde ich gefragt, wie lange Georgien diese schleichende Annexion aushalten wird (Russland, das beide abtrünnigen Regionen als unabhängig anerkannte, schloss etwa mit Südossetien im Frühjahr einen Bündnisvertrag, der die Bildung eines gemeinsamen Verteidigungsraumes vorsieht, Grenzkontrollen abschafft oder den Erhalt russischer Staatsbürgerschaft oder Sozialleistungen erleichtert, Anm.). Mein Land wurde mit Stacheldraht versehen, es hat etwas Ähnliches wie die Berliner Mauer. Und auch wenn es keine Wand ist, sondern Stacheldraht, ist es doch dort. Im 21. Jahrhundert haben sie (Russland, Anm.) das einfach installiert. Fast täglich werden in Georgien Menschen entlang der sogenannten administrativen Grenzlinie gekidnappt. Russen entführen Bauern, die in den Wald gehen, Schwammerl sammeln oder versuchen, Tiere zurückzuholen. Dann verlangen sie Geld für die Freilassung. Dennoch: Wir können uns als verantwortungsvolle Regierung nicht erlauben, dass uns das erzürnt.

Die Strategie der Geduld ist also angebracht?

Es ist die einzige Strategie und Option, die wir momentan haben. Wir tun jedes Mal unser Bestes, um die Menschen nach Hause zu ihren Familien zu bekommen. Das geschieht mithilfe verschiedener Gespräche - sei es im Genfer Format oder auf technischer Ebene. Ungeachtet dessen machen sie weiter wie bisher und beweisen damit, dass noch nichts vorbei ist und wir jederzeit für alles bereit sein müssen. Obendrein haben wir russische Panzer und Flaggen mitten im Herzen Georgiens. Südossetien liegt in der Mitte des Landes, nicht in irgendeiner abgelegenen Gegend. Wenn man eine der Hauptrouten im Land entlangfährt und der Himmel klar ist, sieht man die wehenden russischen Fahnen. Das macht natürlich niemanden glücklich. Aber noch einmal: Es gibt einen Moment für alles und wir glauben fest daran, dass Georgien wieder vereint sein wird. Wir müssen nur geduldig sein und unsere Hausaufgaben machen.

Hat sich die Verteidigungsstrategie Georgiens geändert, seit Russland weitere Verträge mit Abchasien und Südossetien - darunter auch über den Aufbau gemeinsamer Streitkräfte - unterzeichnet hat?

Nein, denn in Wirklichkeit hat sich damit nichts geändert. Diese sogenannten Abkommen wurden unterzeichnet, aber tatsächlich geschah das alles schon ständig. Sie haben diese Beziehungen nur formalisiert. Für uns haben sie keinen legalen Status - genauso wenig wie 80 andere Abkommen. Sie verwenden zu viel Aufmerksamkeit darauf. Für uns ist es lediglich ein weiteres Dokument, das entfernt wird, sobald die Okkupation vorbei ist.

Sie sagen also, dass Russland ohnehin bereits die südossetischen Streitkräfte kontrolliert?

Es gibt keine südossetischen Streitkräfte. Es gibt aber auch kaum mehr eine südossetische Bevölkerung. Südossetien ist heute eine einzige, große Militärbasis mit tausenden russischen Soldaten, einer kleinen, politischen Führung in Zchinwali und ein paar Osseten, die in einem Gebirgsstreifen wohnen.

Georgien zahlt einen hohen Preis für seine Nato-Ambitionen. Erst vor wenigen Tagen starb der 30. georgische Soldat beim Einsatz in Afghanistan (Georgien ist größter Nicht-Nato-Truppensteller). Ist, wie in Georgien bereits kritisiert wird, der Preis zu hoch für ein Ziel, das vielleicht unerreichbar ist?Erstens glaube ich nicht, dass das Ziel unerreichbar ist. Ich glaube sehr an die Nato. Und wenn man das tut, ist man auch der Meinung, dass die Nato nicht Nein dazu sagen wird, wenn es darum geht, Freiheit und Sicherheit zu expandieren. Und darauf kommt es letztendlich an. Zur Frage der Opfer in Afghanistan: Ich glaube nicht, dass wir Opfer für die Nato bringen. In Afghanistan geht es um unsere Nachbarschaft, Herausforderungen aus dieser Region werden in der Folge auch Georgien erreichen. Wir kämpfen dort keinen Krieg von jemand anderen. Wir kämpfen unseren Krieg gegen den Terror.

Erwarten Sie weitere Zwischenschritte der Nato, bevor Georgien den Membership Action Plan (MAP, gilt als Vorstufe zum Beitritt) erhält?

Wir kämpfen darum, dass der Nato-Gipfel in Warschau der Gipfel wird, bei dem die Versprechen von Bukarest eingelöst werden (auf Drängen der USA und osteuropäischer Länder hatte die Nato Kiew und Tiflis im April beim Gipfel in Bukarest 2008 einen Beitritt in Aussicht gestellt, Anm.). Wir werden die Reaktionen der westlichen Führer sehen. Mein Ziel als Verteidigungsministerin ist, dass wir den MAP erhalten.

Gleichzeitig sehen wir in Umfragen, dass die Zahl der Nato-Befürworter in Georgien sinkt.

Grundsätzlich ja, die Nato-Skepsis steigt, die Menschen werden der Versprechen müde. Ich kann Ihnen aber versichern, dass Georgien auf Ihrer Seite ist. Das Land wird nie eurasionistisch werden. Aber von einem Land mit sehr enthusiastisch euroatlantischer Einstellung können wir ein sehr skeptisches werden. Das heißt aber gleichzeitig nicht, dass wir prorussisch werden.

Sie haben – noch als Menschenrechtsanwältin -  einen Bericht zu den Menschenrechtsverletzungen während des Kaukasuskrieges 2008 erstellt. Wann rechnen Sie mit Reaktionen des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC)?

In dem Bericht haben wir ethnische Säuberungen in Südossetien dokumentiert. Wir haben digitale Satellitenaufnahmen, bereits ab dem 12. August bis Ende September, also lange nach Kriegsende, die dokumentieren, wie Dörfer niedergewalzt wurden. Russische Militärs brannten Häuser von Menschen nieder, die diese verlassen mussten, plünderten sie. All das geschah nach dem Krieg selbst, was beweist, dass sie einen sehr konkreten Plan hatten und Georgier verfolgten, damit diese nicht mehr in der Region blieben. Wir haben die Dokumente – darunter 6000 Bilder und Videos – in Den Haag eingereicht und warten jeden Tag darauf, dass die Untersuchungen eröffnet werden.
Manchmal hören wir sehr vielversprechende Nachrichten aus Den Haag - wir werden sehen, ich will hier keine Maßnahmen antreiben. Aber hoffentlich wird auf Basis der Fakten eine Entscheidung getroffen und nicht aufgrund  der Größe des besetzten Gebietes auf der einen Seite und des Aggressors auf der anderen Seite. Das Russland so groß und einflussreich ist, sollte kein Grund sein, es tun zu lassen, wozu es auch immer sich entscheidet. Aus diesem Grund sollte die internationale Gemeinschaft bei diesem Fall gleich aufrichtig sein wie in den afrikanischen und anderen Fällen, die der ICC untersucht hat.

Kaukasus-Krieg 2008
Offene Kampfhandlungen zwischen Soldaten der georgischen Armee und südossetischen Milizverbänden begannen bereits im Juli 2008 und eskalierten in der Nacht zum 8. August, in der georgische Einheiten eine Offensive zur Rückgewinnung der Kontrolle über die gesamte, abtrünnige Region starteten. Daraufhin griffen aus dem Nordkaukasus russische Verbände ein, drängten die georgischen Streitkräfte zurück und rückten bis ins georgische Kernland vor. Bis zum Waffenstillstand am 12. August wurden etwa 850 Menschen getötet sowie rund 2800 Menschen verwundet. Eine EU-Untersuchungskommission kam zu dem Schluss, dass der Krieg von Georgien begonnen wurde. Hinweise auf eine russische Invasion, auf die sich Georgiens Präsident Micheil Saakaschwili berufen hatte, fand die Kommission nicht. Russland wurde allerdings nur teilweise entlastet. Moskau wurde eine starke Mitschuld an der Eskalation des Konfliktes gegeben und zahlreiche Verstöße gegen das Völkerrecht vorgeworfen. So war es aus Sicht der Kommission völkerrechtswidrig, dass Russland in den Jahren zuvor massenhaft russische Pässe an die Bewohner der von Georgien abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien vergab. Damit war auch Moskaus Begründung für sein massives Vorgehen hinfällig, es habe in den beiden Gebieten seine Staatsbürger schützen müssen.

Tinatin Chidascheli ist seit Mai 2015 Verteidigungsministerin Georgiens. Die 1973 geborene Juristin ist Mitglied der Republikanischen Partei. Chidascheli war 2012 bis 2015 Parlamentsabgeordnete und ist mit dem amtierenden Parlamentspräsidenten und Chef der Republikaner, Dawit Usupaschwili, verheiratet.