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"Die Menschen sterben deutlich früher"

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Die humanitäre Krise in Griechenland zeigt sich besonders deutlich im Gesundheitssystem.


Athen. Für den Athener Kinderarzt Nikolaos Stergin hat der Tag vergleichsweise stressfrei begonnen: viele Patienten, doch keine schweren Fälle, Normalzustand. Vor ihm steht gerade ein schlanker Mann mit sorgfältig gestutztem Vollbart, Buci Agron, ein Albaner, der seit 1996 in Athen lebt. "Keine Krankenversicherung", sagt Agron, und der Arzt macht ein Kreuz im Formblatt. Agron verlor vor drei Jahren seine Arbeit als Tagelöhner auf dem Bau und damit auch die Versicherung, weil er nicht mehr einzahlen konnte. Sein zweieinhalbjähriger Sohn muss sich seit Tagen übergeben. "Wir werden den Kleinen noch ein paar Tage hierbehalten", sagt Nikolaos Stergin. "Erbrechen ist eine typische Sommerkrankheit, vermutlich ein Virus."

Schwierig seien die Notfalldienste, wenn Hunderte von Leuten kämen, die wie Agron keine Krankenversicherung haben, sagt der agile, jugendlich wirkende 50-jährige Arzt. "Wir behandeln sie natürlich, aber wir sind darauf nicht eingerichtet." An diesem Tag rechnet Stergin mit rund 300 Kranken, im Winter steigt die Zahl bis auf 600 Kinder. "Wir können dann Patienten, die eine Krankenversicherung haben, nicht mehr angemessen versorgen", sagt er. Keine Versicherung haben inzwischen rund 40 Prozent der zehn Millionen Griechen, die meisten Einwanderer und Flüchtlinge ebenso. Sie können daher nur zu den Notfalldiensten kommen.

33 Prozent weniger Gehalt

Stergin und seine 366 Kollegen arbeiten im staatlichen Hospital der Heiligen Sophia im Athener Norden, dem größten und modernsten Kinderkrankenhaus Südosteuropas. Der Kinderarzt spricht ein paar Worte Deutsch, denn er hat in Ulm studiert, bevor er vor 15 Jahren nach Athen zurückkehrte. "Unser Spital hier kann sich ohne weiteres mit den deutschen Standards messen", sagt er. "Wir haben ausgezeichnete Abteilungen für Allgemeinmedizin und alle Fachdisziplinen."

Das Agia-Sophia-Krankenhaus teilt sich die Bereitschaften mit der zweiten großen Kinderklinik Athens im Wechsel der Wochentage. Der 750-Betten-Klinik mit 1300 Angestellten geht es noch vergleichsweise gut. Sie hat ausreichend Medikamente im Lager und trotz angeordneter Entlassungen noch so viel Personal, dass es keine schweren Ausfälle gibt. Nikolaos Stergin macht jedoch zu schaffen, dass sein Gehalt in den vergangenen drei Jahren von 3000 auf 1700 Euro netto gekürzt wurde. "Ich habe zwei Kinder, ich bereue, dass ich Deutschland verlassen habe."

Um 33 Prozent hätten die Gehälter auf Befehl der Gläubiger in den letzten fünf Jahren gestutzt werden müssen, berichtet der Klinikmanager Emmanouil Papasavas, ein hochgewachsener energischer Mittdreißiger. Stolz führt er durch die einzelnen Abteilungen, die blitzsauber, ultramodern und mit ihren bunten Farben und vielen Spielzimmern sehr kindgerecht wirken. Es gibt die neuesten Dialyse-, Röntgen- und CT-Geräte. Dieses Krankenhaus mit seinem jährlichen 70-Millionen-Euro-Budget könnte auch in Deutschland oder Österreich stehen.

Wie ist das möglich? "Wir haben großzügige Sponsoren", erwidert Papasavas. "Weil wir Kinder betreuen, spenden die Leute." Nach dem Beginn der Krise gab die schwerreiche Reederin Marianna Vardinogiannis der Klinik eine 30-Millionen-Euro-Spende. "Wenn aber die Banken geschlossen bleiben, gibt es in ein bis zwei Wochen Probleme bei Medikamenten, die wir aus dem Ausland beziehen", sagt der Manager.

Die ungesponsorte Seite des griechischen Gesundheitssystems kann man in den staatlichen Krankenhäusern für Erwachsene erleben. Journalisten sind in diesen Einrichtungen nicht unbedingt willkommen. Die Foyers dieser Kliniken wirken trostlos und schäbig, die Fassaden renovierungsbedürftig, viele Informations- und Aufnahmeschalter sind nicht besetzt. Der Zustand des griechischen Gesundheitswesens hat nur noch wenig mit nordeuropäischen Standards zu tun, sondern erinnert eher an Entwicklungs- oder Schwellenländer. Wer eine Krankenversicherung oder Geld hat, kann sich behandeln lassen. Allen anderen bleibt nur die Notaufnahme.

Wie im Kriegsgebiet

Das Paradebeispiel für den schleichenden Kollaps des griechischen Gesundheitssystems ist die Evangelismos-Klinik im Athener Zentrum, ein Betonkoloss mit mehr als tausend Betten, das größte Krankenhaus des Balkans. Hier drängen sich so viele Menschen in der Notaufnahme, dass kaum ein Durchkommen ist. Im Flur sieht es aus wie in einem Kriegsgebiet, dort stehen Krankenbetten dicht an dicht, weil in den Behandlungszimmern kein Platz mehr ist. Ein 30-jähriger kräftiger Maurer hat ein Nervenleiden, das seine rechte Körperhälfte lähmt. "Wir sind nicht versichert, können die Medizin nicht selbst bezahlen, wir brauchen die Hilfe der Klinik. So hangeln wir uns von Tag zu Tag", sagt seine Frau.

Die Angehörigen putzen

Im Freien vor dem Krebstrakt warten zwei Frauen und rauchen. Sie betreuen ihre an Leukämie leidende Schwiegermutter und Mutter. "Ohne uns wären sie verloren", sagt die 50-jährige Maria Kapatos, deren greise Schwiegermutter gerade im Krankenhaus eine Blutwäsche erhält. "Das Krankenhaus hat zu wenig Personal, um sich um die Patienten zu kümmern. Das müssen die Angehörigen übernehmen." Beide Frauen leben seit einer Woche mit ihren Verwandten in der Klinik. Sie klagen auch über mangelnde Sauberkeit. "Für die gesamte Leukämie-Abteilung gibt es nur eine Toilette", sagt Maria Kapatos. "Die ist so verdreckt, das müssten Sie mal sehen. Eklig ist das." Sie hat jetzt selbst Putzmittel gekauft.

Zwei junge Ärzte aus dem Evangelismos erklären sich nach ihrer Schicht zu einem Gespräch außerhalb der Klinik bereit. Thanathis Kamenos, 30, verheiratet, mit einem Kind, und sein Freund Kostas Eleftheriou, 35 Jahre alt und Single. Beide absolvieren gerade das letzte Jahr ihrer mehrjährigen Facharztausbildung, Kamenos ist angehender Nierenspezialist, Eleftheriou als Pneumologe für Lungenkrankheiten zuständig. "Oft kommen doppelt so viele Leute wie heute", sagt Eleftheriou. Sein Kollege erzählt, dass er gerade 30 Stunden durchgearbeitet hat. "Wenn ich Siebentagebereitschaft habe, gibt es Stunden, wo ich nicht mehr genau weiß, was ich eigentlich tue."

Der Stress ist enorm. Eleftheriou sagt, er arbeite im Durchschnitt 80 Stunden die Woche, bei sechs freien Tagen im Monat. Die Nierenabteilung sei noch ein "geschützter Bereich", sagt dagegen Kamenos, aber eine 60-Stundenwoche muss er auch bewältigen. Beide sprechen von Zuständen totaler Erschöpfung. "Wir tun unser Bestes, aber wir können die Patienten einfach nicht so versorgen, wie sie es verdient hätten", sagt Kamenos.

Ein gewaltiger Brain Drain

Die angehenden Fachärzte berichten auch von wochenlangen Engpässen bei Medikamenten, Kathetern und Spritzen, die die Patienten privat überbrücken müssten, von gerade noch zehn Physiotherapeuten im ganzen Krankenhaus. Die Zahl der Ärzte sei zwar etwa konstant geblieben, doch nur, weil freiwerdende Stellen von Medizinern besetzt wurden, die aus den sieben Krankenhäusern stammen, die seit 2012 in Athen geschlossen wurden. Bestürzend ist der Verlust an Pflegepersonal. "Nachts muss sich eine Schwester um bis zu 40 Patienten kümmern, das kann sie nicht. Wer auf die Toilette muss, ist auf Verwandte angewiesen."

Doch am dramatischsten ist die enorme Zunahme von Patienten ohne Versicherung in der Notaufnahme. "Ihre Zahl explodiert. Für einige bedeutet das jetzige System, dass sie deutlich früher sterben werden", sagt Thanathis Kamenos. Eine Patientin kam trotz Schmerzen so spät in die Klinik, dass ihr beide Nieren entfernt werden mussten. "Man hätte vorher etwas tun können, aber sie hatte keine Versicherung und traute sich nicht ins Spital." Und weil die Ärzte doppelte Schichten absolvieren müssen und gleichzeitig ihre Gehälter gekürzt werden, kündigen immer mehr von ihnen und gehen ins Ausland. "Dieser Brain Drain ist gewaltig. Uns fehlen bereits wichtige Spezialisten", sagt Eleftheriou.

Verzweifeln an Europa

Die jungen Ärzte wollen eigentlich bleiben, weil sie sich für ihre Patienten verantwortlich fühlen. "Aber ich habe zunehmend das Gefühl, dass ich gar nicht mehr heile, sondern nur noch Nothilfe für Todgeweihte leiste", sagt der Nierenarzt Kamenos. "Weitere Sparmaßnahmen werden sich absolut verheerend auswirken." Er sagt, er verzweifle an Europa, dass den Griechen und ihrer Gesundheit immer größere Opfer abverlange. Er weiß, dass er gute Chancen hätte, in Deutschland, wo er bereits ein Praktikum absolvierte, eine Anstellung zu finden - mit dem doppelten Gehalt und deutlich weniger Arbeitsstunden. "Es kann sein, dass ich auswandere. Ich habe eine Familie, an die ich denken muss."