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"Wir wollen keine Rache, aber Recht und Gerechtigkeit"

Von Maria Harmer

Politik
In Potocari werden jedes Jahr am 11. Juli die sterblichen Überreste derer, die im vergangenen Jahr gefunden und identifiziert werden konnten, im Memorial beigesetzt.
© M. Biach

Das Massaker von Srebrenica - ein Kriegsverbrechen, das bis heute nachwirkt.


Srebrenica. "Ich bin eine schlechte Mutter - ich habe sie nicht beschützen können", sagt Hatidza Mehmedovic. Die heute 61-jährige Bosniakin verlor beim Massaker von Srebrenica ihre beiden Söhne, ihren Mann sowie 48 weitere männliche Angehörige. Djidja, wie sie von allen ihren Bekannten respekt- und liebevoll genannt wird, zeigt Fotos ihrer Kinder. Es sind Schulfotos aus der Grundschule. Azmir, der ältere, war 17, Almir, der jüngere, 16 Jahre alt, als sie erschossen wurden. "Ich habe lange in der Hoffnung gelebt, dass sie noch leben. Sie waren jung, sie waren unschuldig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand sie umbringt." Mehmedovic gründete die "Mothers of Srebrenica", eine Organisation, der mittlerweile mehrere tausende Frauen aus der Stadt Srebrenica und vielen umliegenden Ortschaften angehören.

Vor 20 Jahren, Mitte Juli 1995, wurden in Srebrenica, einer kleinen Stadt 75 Kilometer nordöstlich von Sarajewo im Osten von Bosnien und Herzegowina, nahe der Grenze zu Serbien, mehr als 8000 männliche muslimische Bosniaken von serbischen Milizen ermordet. Das "Massaker von Srebrenica" gilt als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und wurde 2007 durch UN-Gerichte als "Völkermord" klassifiziert.

Angehörige fordern Recht

"Wir Angehörige der Opfer des Völkermordes erwarten nicht viel", sagt die Gründerin und Sprecherin der "Mothers of Srebrenica". "Wir möchten keine Rache, aber Recht und Gerechtigkeit."

Anfang der 1990er Jahre waren fast drei Viertel der Bevölkerung in der Gegend um Srebrenica Bosniaken, also muslimische Bosnier. Während des Bosnienkrieges kam es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen den bewaffneten Einheiten der bosnischen Serben und den Bosniaken. Im Frühling 1992 wurde Srebrenica erstmals vom bosnisch-serbischen Militär und Paramilitärs eingenommen. Bosniakische Militäreinheiten eroberten die Stadt nach wenigen Wochen zurück. Sie starteten aus der Stadt heraus Gegenoffensiven auf umliegende Dörfer, die weiterhin als Stützpunkte der serbischen Belagerer dienten. Serbische Medien sprechen von 1000 bis 3000 Opfern dieser Kriegsgräuel.

Schutzlos in der Schutzzone

Im April 1993 wurden Srebrenica und die umliegenden Dörfer vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zur Schutzzone erklärt. Doch im Sommer 1995 begannen auf Befehl von Radovan Karadzic, dem Präsidenten der Republika Srpska, gezielte Vorbereitungen für die "ethnische Säuberung" dieses Gebietes. Am 11. Juli fielen bosnisch-serbische Einheiten unter dem Kommando von General Ratko Mladic in Srebrenica ein und trieben die Bewohner sowie weitere zehntausende muslimische Flüchtlinge aus den umliegenden Ortschaften, die in der Stadt Zuflucht gesucht hatten, die sogenannte "safe area" talwärts in die etwa fünf Kilometer entfernt gelegene Ortschaft Potocari. Dort, in einer aufgelassenen Fabrik, war das UNO-Hauptquartier, waren holländische Blauhelme untergebracht.

"Die Menschen dachten im Juli 1995, dass das ein sicherer Ort sei und sie hier Schutz vor den angreifenden Serben finden würden", sagt die Juristin und Kriminologin Amra Begic. Damals hat sie ihren Vater und Großvater verloren; heute ist es ihr Job, durch das sogenannte "Memorial-Center" zu führen. "Vor uns liegt die ehemalige Batterie-Fabrik mit den dazugehörenden Hallen; das ehemalige Quartier des 3rd Dutch Battallion", sagt Begic mit einer ausladenden Handbewegung. "Mindestens 30.000 Menschen haben am 11. Juli 1995 versucht, die Fabriksgebäude zu erreichen."

Die Akademikerin zeigt auch eine Betonrampe, in die auf einer Seite groß "UN" eingraviert ist. "Hier haben die Serben die Burschen und Männer von den Frauen und Mädchen getrennt. Und deshalb wollten wir die Gedenkstätte hier machen." Weil die Frauen die Männer hier das letzte Mal lebend gesehen haben.

All das sei "vor den Augen der Blauhelme" geschehen. Dieser Vorwurf ist häufig zu hören. Tatsache ist, dass die holländischen Soldaten - die meisten jung, unzureichend ausgerüstet und vorbereitet - Srebrenica und die umliegenden Orte, die eine "Sichere Zone" für die muslimischen Flüchtlinge sein sollte, kampflos den bosnisch-serbischen Truppen unter General Mladic überließen. Es gibt ein Foto, das den Kommandeur des "Dutchbat" genannten niederländischen Blauhelm-Bataillons, Thomas Karremans, am 12. Juli 1995 beim scheinbar fröhlichen Zuprosten mit Mladic zeigt. Tatsache ist aber auch, dass die Niederländer den Truppen von Mladic militärisch unterlegen waren und ihre dringende Bitte an die Führung der Friedenstruppen um Luftunterstützung ignoriert worden war. Außerdem umfasste ihr UNO-Mandat keine Angriffsoperationen.

Potocari, 20 Jahre später. Die Blumen blühen, die Vögel zwitschern. Spitze weiße Grabsteine, die in Reihen über eine weite Fläche verteilt im grünen Gras stehen. Auf jedem ist ein Name eingraviert und ein Geburtsdatum - und auf allen ein Tag Mitte Juli 1995 als Sterbedatum. Zusätzlich gibt es eine in einem großen Halbkreis in Marmor gemeißelt alphabetische Auflistung aller bisher hier Bestatteten. "6241 sind es derzeit", sagt Amra Begic.

In Potocari werden jedes Jahr am 11. Juli die sterblichen Überreste derer, die im vergangenen Jahr gefunden und identifiziert werden konnten, im Memorial beigesetzt.
© M. Biach

Jedes Jahr am 11. Juli werden alle, deren sterbliche Überreste im vergangenen Jahr gefunden und identifiziert werden konnten, im Memorial beigesetzt. Bis heute sind noch nicht alle Massengräber entdeckt. Die Natur gibt nach 20 Jahren keine Aufschlüsse mehr. "Diese Ungewissheit ist das Schrecklichste", sagt Mehmedovic. "Andererseits stirbt die Hoffnung an dem Tag, an dem ein Knochen oder irgendetwas gefunden wird, das mittels DNA-Analyse identifiziert werden kann."

Srebrenica 2015 - 20 Jahre nach dem Massaker: Viele der Häuser sind bis heute unbewohnt, die Dachstühle zerstört, die Fassaden von Granatsplittern vernarbt und die Fenster glaslose, dunkle Löcher. Die Stadt, die in einem engen Tal liegt, wirkt ausgestorben. Viele Geschäftslokale sind leer, Hunde streunen umher. Eine Moschee und die orthodoxe Kirche am Hang prägen neben den vielen zerstörten Häusern das Bild. Aber es wird auch renoviert und gebaut. Srebrenica ist und bleibt ein zutiefst traumatisierter Ort.

Nach dem Juli 1995 war das Gebiet "ethnisch sauber" und viele serbische Familien wurden hier angesiedelt. Die vertriebenen Bosniaken kehrten mehrheitlich erst nach dem Jahr 2000 wieder zurück. Unter ihnen auch Mehmedovic. Sie hatte zuerst in Tuzla, dann in Sarajevo als Flüchtling gelebt. Als sie zurückkam, stand sie vor einem bis auf die Grundmauern niedergebrannten Haus. Allein.

"Ich lebe nicht, ich atme nur"

"Ich lebe nicht, ich atme nur", antwortet Hatidza auf die Frage, wie sie nach all dem Erlebten nach Srebrenica zurückkommen konnte und hier weiterleben kann.

"Keine Versöhnung ohne Gerechtigkeit" ist ein Grundsatz der internationalen Strafjustiz. Ratko Mladic wurde 2011 nach Den Haag ausgeliefert. Und auch Ex-Präsident Radovan Karadzic muss sich vor dem UNO-Tribunal für Kriegsverbrechen verantworten. Im Oktober wird mit einem Urteil gerechnet. Mladics Prozess wird voraussichtlich erst 2017 abgeschlossen. Bisher wurden bereits zahlreiche bosnisch-serbische Offiziere zu teils lebenslangen Haftstrafen verurteilt.

"Das Gericht dient dazu, ein Zeichen für die nächsten Generationen zu setzen", sagt Mehmedovic. "Aber uns bedeutet das nicht viel. Auch wenn man das ganze serbische Volk verurteilen würde - unsere Männer und Söhne sind tot."

Senahid Hasanovic aus der kleinen Ortschaft Slatina hat überlebt. Obwohl er an der berüchtigten Rampe von seiner Frau und den drei Kindern getrennt wurde. Er war einer der Männer, die zusammen mit Mitgliedern der 28. Division der Armee Bosnien-Herzegowinas eine 10.000 bis 15.000 Mann starke Kolonne formierten und versuchten - teilweise unbewaffnet - über die Berge Richtung Tuzla in bosniakisch kontrolliertes Gebiet durchzubrechen. "Viele sind erschossen worden", erinnert sich Hasanovic. "Es war ein Albtraum! Sechs Tage und sechs Nächte lang waren wir unterwegs."

Jedes Jahr geht Hasanovic jetzt mit zahlreichen anderen Überlebenden und Sympathisanten aus der ganzen Welt diesen Weg im Juli von Tuzla nun wieder zurück über die Berge nach Srebrenica, genauer nach Potocari. "Friedensmarsch" heißt der mehrtägige Marsch jetzt, nicht mehr "Todesmarsch".

Heuer, am 20. Jahrestag, werden besonders viele Gäste und hohe politische Vertreter zu den Gedenkfeiern erwartet. Der UNO-Sicherheitsrat wollte anlässlich des Jahrestages eine Resolution annehmen, mit der der 11. Juli zum weltweiten Tag der Erinnerung an die Opfer des Völkermordes in der ehemaligen ostbosnischen UNO-Schutzzone erklärt werden sollte. Sie scheiterte jedoch am Widerstand Russlands, das ein Veto einlegte. Der britische Resolutionsentwurf würde Konflikte auslösen, da darin nur ein Volk beschuldigt wäre. Dies würde dem Versöhnungsprozess in Bosnien-Herzegowina nicht dienlich sein. Großbritannien zeigte sich "empört" über das Veto. Es beflecke das Andenken an all die, die während des Völkermordes starben.