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Armenien in Unruhe

Von Veronika Eschbacher

Politik

Wochenlange Proteste in Eriwan sind abgeklungen. Sie werden aber wieder aufflammen, warnen Experten.


Eriwan/Wien. Ein wenig erinnerte es an ein Volksfest. Die Menschen tanzten Kotschari, den armenischen Nationaltanz auf der Straße, musizierten. Manche brachten ihre Griller mit, andere erfreute ein anonymer Gönner, der 100 Pizzen in die Bagramjan-Allee schickte. Dort, unweit der Kaskade, einer monumentalen Freitreppe im Herzen der armenischen Hauptstadt Eriwan, waren seit Ende Juni mehr als zwei Wochen lang zeitweise bis zu 20.000 Demonstranten zusammengekommen. Sie protestierten gegen eine angekündigte Strompreiserhöhung. Die Kundgebungen sind abgeklungen, seit der Präsident Sersch Sargsjan eine Verschiebung der Strompreiserhöhung verkündete. Doch nur wenige glauben, dass der "Elektromaidan", wie die Proteste von Außenstehenden schnell getauft worden waren, bereits Geschichte ist.

Viele Beobachter sehen in der vierten Erhöhung der Strompreise innerhalb von vier Jahren nur den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Viel Unzufriedenheit hat sich in der Südkaukasusrepublik aufgrund der stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung des 3-Millionen-Landes breitgemacht. Die Wirtschaft leidet generell unter strukturellen Defiziten wie einer fehlenden Industriestruktur - aktuell aber vor allem unter der schlechten russischen Konjunktur.

Wirtschaftliche Unzufriedenheit

Die für das Land sehr wichtigen Rücküberweisungen armenischer Gastarbeiter in Russland etwa fielen von Jänner bis Mai laut armenischer Zentralbank um 296 Millionen US-Dollar. Das ist ein Rückgang um 39,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Auch der Außenhandel brach seit Jahresbeginn stark ein, die Weltnachfrage nach den wichtigsten Exportprodukten Armeniens - unedle Metalle wie Kupfer - stagniert schon länger. Der Handel mit dem wichtigsten Handelspartner Russland, mit dem man in der Eurasischen Wirtschaftsunion verbunden ist, sank in den ersten fünf Monaten 2015 um 54,6 Prozent.

Immerhin sorgt nun der in Wien erzielte Atomdeal mit dem südlichen Nachbarn Armeniens, dem Iran, in dem isolierten Land (die Grenzen zur Türkei wie zu Aserbaidschan sind geschlossen) für Hoffnung. In Armenien wird nicht nur eine Steigerung des bilateralen Handels erwartet, sondern auch damit spekuliert, Transitland für iranisches Gas nach Europa werden zu können.

Angst vor Verlust derSouveränität

Doch die positiven Auswirkungen der Öffnung des iranischen Marktes werden noch länger auf sich warten lassen und die zunehmende Perspektivenlosigkeit der Jugend nicht substanziell lindern können. Die armenische Regierung unter Präsident Sargsjan kämpft zudem gegen ein tiefgehendes Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber den regierenden Politikern, die eng verbunden sind mit den heimischen Oligarchen - aber auch russischen Interessen.

Grundsätzlich herrscht in Armenien zwar keine anti-russische Stimmung. Von Protestierenden kam nur vereinzelt offen Kritik an Moskau - und dem russischen Mutterkonzern des staatlichen armenischen Energiemonopolisten, der die Strompreiserhöhung gefordert hatte. Dennoch sehen Beobachter, dass "das Volk der Armenier zunehmend seine Würde verletzt sieht", wie die Konrad-Adenauer-Stiftung in einem Länderbericht zu Armenien kürzlich schrieb.

"Die aktuelle Stilleist trügerisch"

Dort ist auch die Rede von einer "postkolonialen Situation" Armeniens, da das Land zwar formell ein unabhängiger Staat sei, jedoch in wichtigen Bereichen Souveränität verloren habe. Vor allem kritische Infrastruktur ist fest in russischer Hand. Und auch sicherheitspolitisch ist Armenien, auf dessen Territorium sich eine russische Militärbasis befindet und dessen Soldaten unter anderem die Grenze mit der Türkei kontrollieren, vollständig von Moskau abhängig.

"In den Protesten ging es auch um die Konditionen der russisch-armenischen Beziehungen", sagt Richard Giragosian, Direktor des Regional Studies Center in Eriwan, zur "Wiener Zeitung". Der Kritik an der Regierung, zu schwach zu sein, um sich gegen Moskau durchzusetzen, seien Schritte von russischer Seite gefolgt, die Beziehungen zu Armenien zu verbessern. So versprach Moskau Finanzhilfen und Kredite für Waffenkäufe.

Auch wenn die Proteste für jetzt abgeflaut sind, will Giragosian nur von einer "trügerischen Stille" sprechen. Der Politologe erwartet eine neue Runde an Protesten ab Ende August, sobald die Verfassungsreform vorgestellt wird und die Steuern für Alkohol und Tabak angehoben werden.