Oleg, Tamara, Olga und Jurij - keiner der vier Ukrainer setzte auch nur einmal als Revolutionär einen Fuß auf den Maidan. Dennoch wurde ihr Leben seit dem Umsturz völlig auf den Kopf gestellt.
Kiew/Lemberg/Hollywood. Olga Orlowa schüttelt energisch den Kopf. "Nein, nein, ganz und gar nicht!", sagt die 28-Jährige. Nicht ein einziges Mal habe sie ihren Umzug bisher bereut. Im März hatte die Politologin ihre letzten, noch verbliebenen Sachen in ihrer Wohnung in Kiew gepackt - und sie auf die Krim gebracht. Seither lebt sie wieder bei ihren Eltern auf der von Russland annektierten Halbinsel, oder: "auf der Krim, die nach Russland zurückgekehrt ist", wie sie es formuliert. Und Olga hat nicht vor, in naher Zukunft in die ukrainische Hauptstadt, die zehn Jahre lang ihre Heimat war, zurückzukehren. "Diese Zeit ist vorbei,", sagt sie.
Dabei hatte Olga eine gut laufende Karriere im ukrainischen Staatsdienst. Nachdem sie auf einer angesehen Universität studiert hatte, kam sie über ein Praktikum in einem Ministerium unter. Nach der Absetzung des Präsidenten Wiktor Janukowitsch im Zuge der Revolution im Vorjahr und dem darauf folgenden Personenkarussell im gesamten Staatsapparat erhielt sie sogar noch einen Posten in der Präsidialadministration. Dann aber, als sich der Krieg im Osten zunehmend verschlimmerte, hätten sie ihre Eltern immer mehr gedrängt, auf die Krim zurückzukehren. Das hieß: Ihr Leben noch einmal ganz von vorne anzufangen. Dabei hatte sie nicht einmal als Revolutionärin einen Fuß auf den Maidan gesetzt. Und doch sollte dieser ihr Leben völlig auf den Kopf stellen.
Aber nicht nur Olga wurde der Boden unter den Füßen weggezogen. Viele Ukrainer finden sich heute in einem gänzlich anderen Leben wieder. Kaum begann der Boden am Maidan unter den Revolutionären, Freiheitsrufen, Barrikaden und brennenden Autoreifen zu beben, begannen die Balken, auf die sich das Leben vieler Ukrainer stützte, zu wanken. Bei nicht wenigen kamen sie gar zum Einsturz. Sie mussten sich seither völlig umorientieren.
Schwieriger Neustart
Trotz der grundsätzlichen Zufriedenheit mit ihrer Entscheidung - ganz einfach, sagt Olga, falle ihr ihr neues Leben noch nicht. Sie habe kaum noch Freunde auf der Krim gehabt nach den vielen Jahren in Kiew. In der Hauptstadt wiederum habe sie viele ihrer besten Freunde verloren, weil diese nicht verstehen würden, warum sie wegzog. Noch dazu auf die Krim - also "nach Russland". Sie vermisse auch mal den Klang der ukrainischen Sprache, ihre Lieblingsorte, ihren Friseur, sagt sie, und muss über Letzteres selbst lachen.
Ihre Wohnung in Kiew will sie verkaufen. Die Stadt sei ihr heute nicht mehr geheuer. Sie empfinde sie nun als aggressiv. Aber wenn sie auf der Krim ist, sei alles anders. Auch dass ihre Heimat nun Russland sei, bereite ihr "nichts als freudige Gefühle". Als Ukrainerin hatte sie sich ohnehin nie vorgestellt, sondern immer als "aus der autonomen Republik Krim" kommend. Es habe ihr immer gefallen, "autonom" besonders zu betonen.
Seit der Eingliederung der Halbinsel und ihrer Rückkehr habe sich zwar auf der Krim kardinal nichts geändert, erzählt Olga. Aber es freue sie, dass Wladimir Putin ihr Präsident ist. Die jetzigen Probleme, die es hie und da noch gebe, würden zweifellos gelöst. Sie hat sich auch bereits für mehrere Posten im russischen Staatsdienst beworben. Und so ist es gut möglich, dass sie bald nicht mehr ukrainische, sondern russische Staatsakten walzt. Nichts wünsche sie sich mehr, als für das "Wohl Russlands" zu arbeiten.
"Muss mich umorientieren"
Von einer derartigen Euphorie kann Jurij Protsyk momentan nur träumen. Der Lemberger hatte bis zur Revolution große Pläne. Mit einem ausländischen Partner hatte der 34-Jährige ein Reisebüro gegründet, vier Jahre lang Geld und Energie hineingesteckt, an Programmen und dem richtigen Marketing getüftelt. Langsam begannen die Geschäfte zu laufen. Vor allem Gäste aus Europa empfing er. Und gerade, als die ersten vorzeigbaren Erfolge erzielt wurden, brach die Revolution aus - und wenig später der Krieg im Osten.
An ein gut laufendes Geschäft war fortan nicht zu denken. Ausländische Gäste blieben der Ukraine fern, auch wenn die Kampfhandlungen 1200 Kilometer entfernt tobten. Immer öfter gab es Krach zwischen Jurij und seinem Geschäftspartner um die richtige Strategie. Schließlich zog er sich aus dem Unternehmen zurück.
"Es bleibt mir nichts über, als mich umzuorientieren", sagt Jurij, der heute auf Arbeitssuche ist. Er hat sich für Posten in Lemberg, Kiew, Österreich, Deutschland und sogar in Dubai beworben. "Ich liebe diese Stadt aber, und langfristig möchte ich hier bleiben", sagt er. "Wer wird denn das Land aufbauen, wenn nicht wir?"
Mit der Frage lässt er auch einen weiter gehegten Wunsch durchklingen. Jurij liebäugelt nach wie vor mit dem Gedanken, wieder selbstständig zu sein. Allein - es fehlt an einer stabilen Finanzierung seiner Ideen. Ukrainische Banken sind weiter mehr als zurückhaltend bei der Finanzierung von neuen Geschäften.
Tamara Zacharowa wird sehr still, wenn sie über ihr neues Leben nachdenkt. Der Schock der Ereignisse des vergangenen Jahres sitzt ihr tief in den Knochen. Am 9. Juli des Vorjahres war die 48-Jährige aus dem ostukrainischen Luhansk nach Kiew geflohen. "Es war nicht mehr auszuhalten, die ständigen Angriffe, Flieger, Detonationen", erinnert sie sich. "Ich aber bin mit einer derartigen Herzlichkeit hier in Kiew aufgenommen worden, dass ich dankbarer nicht sein könnte."
Eigentum "nationalisiert"
Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft habe sie bei einer Firma, für die sie schon in Luhansk tätig war, eine Anstellung erhalten. Über Freunde habe sie eine leistbare Wohnung gefunden. Bitter waren für sie jedoch die wenigen bisherigen Besuche in ihrer alten Heimat Luhansk: "Irgendwelche Militärs" seien vor ihrem alten Büro gestanden. Diese hätten sie weder ihre technischen Geräte, den Safe oder andere Einrichtungsgegenstände mitnehmen lassen. "Nationalisiert", hätten die Männer schmallippig gesagt. Auch sämtliche Apparaturen der Kohleverarbeitungsfabrik ihres Mannes seien verschwunden. Zu Altmetall zerschnitten und in Lkws abtransportiert, erzählten ihr Anrainer.
Ihr erst ein halbes Jahr davor gebautes Haus wurde im August von drei Geschossen getroffen. Es ist seither unbewohnbar. Tamara weiß nicht, ob sie jemals eine Kompensation erhalten wird. Aber auch so hat sie nicht vor, es zu renovieren. "Auch wenn jetzt weniger geschossen wird, es wird doch Jahre dauern, bis die Stadt wieder auf den Beinen und normales Leben möglich ist", sagt sie. Ihre Zukunft sieht sie in Kiew.
Tamara hat den Glauben an eine Zukunft in Luhansk verloren, Oleg Bogdan den an sein Land insgesamt. Der Fotograf und Art-Direktor wanderte im Jänner in die USA aus. "Ich fand die Situation zum Weinen", sagt er. Heute lebt er in Hollywood und fotografiert Celebrities, dreht Musikvideos. Der Ukrainer verwendet seine Muttersprache Russisch praktisch nur mehr, wenn er seine Großmutter anruft. Dann fixiert er sein Handy am Armaturenbrett, schaltet die Kamera ein und zeigt seiner "Babuschka" die Lieblingsstraßen seiner neuen Heimat. "Sie liebt das", sagt er. Wie Olga hat auch er seine Entscheidung noch nie bereut. "In der Ukraine ist doch mittlerweile vieles aus dem Ruder gelaufen", sagt er. Er sei froh, den Sprung gewagt zu haben.