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"Sie töten uns, weil wir Kurden sind"

Von WZ-Korrespondent Fabian Köhler

Politik

Interview mit Adnan, einem Überlebenden des Terroranschlags in Suruc an der türkisch-syrischen Grenze.


Suruc. Im Hof des Amara Kulturzentrums in Suruc wehen noch immer die Fahnen mit den 31 Gesichtern der Toten der türkischen Jugendorganisation SGDF. Hinter den zerbrochenen Fensterscheiben des Zentrums sitzt der 25-jährige Adnan (er will nicht erkannt werden, Anm.) und erzählt vom Terror des IS, der ihn erst aus Kobane vertrieb und ihn im türkischen Suruç wieder einholte.

"Wiener Zeitung":Zwei Wochen sind seit dem Attentat vergangen. Sie arbeiten hier im Kulturzentrum, wie ist es Ihnen seitdem ergangen?Adnan: Wir bekommen viel Unterstützung. Viele kommen aus anderen türkischen Städten, und wollen uns helfen. Es kommen viele Journalisten wie Sie. BBC und CNN waren mit Kamerateams da. Was soll ich sagen, wir versuchen weiterzumachen, auch wenn wir diesen Tag nicht vergessen können.

Wie haben Sie ihn erlebt, diesen Tag?

Es war gegen Mittag, als die Bombe explodierte. Ich bin fünf Minuten vorher nach Hause gegangen, um Getränke zu holen. (Macht eine lange Pause) Fünf Minuten. Es waren nur fünf Minuten. Und dann habe ich die Explosion gehört, der Boden hat gebebt. Ich dachte erst, vielleicht ist irgendwo ein Trafo explodiert, und bin zurück zum Kulturzentrum gerannt.

Die schrecklichen Bilder des Anschlages gingen ja durch alle Medien.

Ja, die habe ich auch gesehen. Aber es war viel schlimmer als in den Handyvideos. Die Menschen haben geschrien. Vielen sind in Panik umhergerannt. Überall lagen Teile von Körpern, Arme, Beine. Ich habe den Leuten zugerufen, sie sollten wegrennen. Ich komme aus Kobane und weiß, dass die richtig große Bombe oft erst später explodiert. Die Terroristen warten, bis von überall Leute herbeigeströmt sind, und töten dann noch viel mehr Menschen. Als das zum Glück nicht passierte, haben wir die Verwundeten zu den Autos getragen und die Toten zugedeckt. Ein Bild werde ich nie vergessen: Diese beiden Mädchen, sie hielten sich an den Händen und starben gemeinsam (Anm. d. Red.: Eine der beiden hat schwer verletzt überlebt). Als ich sie sah, konnte ich nicht mehr aufhören zu weinen.

Haben Sie sich vorstellen können, dass so etwas passiert?

Ja und nein. Wir hatten am 18. Juli ein großes Fest zur Befreiung Kobanes. Es waren viele Parteivertreter da. Wir dachten, wenn der IS angreift, dann an diesem Tag. Aber eigentlich stellst du dir so etwas nicht vor. Zu uns kommen Leute, um über Politik zu sprechen, um zu helfen, sich zu treffen oder einfach zu lesen oder sich zu erholen. Seit drei Monaten arbeiteten wir daran, diese Leute hierher zubringen, die Kobane wiederaufbauen wollten. Die Aktivisten wollten das dort (zeigt auf das Spielzeug, das immer noch am Ort des Anschlags liegt) zu den Kindern in Kobane bringen. Sie wollten helfen sonst nichts.

Haben Sie eine Antwort auf die Frage nach dem "Warum"?

Warum sie uns töten? Weil wir Kurden sind. Wir sind keine Terroristen. Wir töten keine Zivilisten. Wir kämpfen für unsere Freiheit, die uns IS und Türkei nehmen wollen.

Dass die türkische Regierung hinter dem Anschlag steckt, scheint zumindest hier in Suruc Common Sense zu sein.

Natürlich stammt der Terrorist von Isis. Aber die Frage ist: Wer hilft Isis? Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wie Isis in die Türkei kommt: über die syrische oder die irakische Grenze. In Rojava haben wir die Kontrolle. Die YPG lässt sie nicht rein, die Peschmerga auch nicht und die irakische Regierung auch nicht. Es gibt nur eine Möglichkeit, und das sind die, die Isis ohnehin schon immer Waffen und Gelder schicken.

Die türkische Regierung sagt, sie würde jetzt gegen Isis-Stellungen vorgehen.

Ja, sie sagen, sie greifen Isis an, aber in Wahrheit treffen sie uns. Über 1000 kurdische Aktivisten wurden in den letzten Tagen in der Türkei festgenommen. Sie wollen einfach keinen kurdischen Staat in Rojava, der ihre Macht begrenzen könnte. Und Isis hilft ihnen dabei. Warum hat Isis Kobane angegriffen? Es ist eine ganz gewöhnliche Stadt. Es gibt da keine Industrieanlage, kein Öl. Die Türkei will keine kurdische Regierung an ihrer Grenze.

Waren Sie in Kobane, als der IS angriff?

Ja. Sie kamen mit der Botschaft: "Wir töten eure Männer und Kinder und verkaufen die Frauen in Raqqa." Die Leute flüchteten von Dorf zu Dorf und riefen: "Isis kommt, rennt!" Einer Freundin schnitten sie den Kopf ab und hängten sie in einem Baum. Einem anderen Freund von mir sollen sie die Hände abgeschnitten haben, bevor sie ihn töteten. Aber wir haben seine Leiche nie gefunden.

Wie geht es Ihrer Familie?

Meine Familie lebte auch in Kobane, meine Eltern, mein Bruder, meine zwei Schwestern. Mein Bruder starb im Kampf gegen den IS. Nach dem Anschlag auf seine Einheit bei der YPG blieb nicht viel übrig von seinem Körper. Nachdem ich ihn begraben habe, haben wir Kobane verlassen. Vor sechs Monaten war das. Meine Familie lebt jetzt in der Türkei. Nur meine Schwester ist noch in Kobane. Jetzt bauen wir wieder auf und dann kehren wir zurück.

Wollen Sie weiter machen?

Klar, was sonst. Wissen Sie, mein Großvater ist zu alt, um sich für unsere Zukunft einsetzen. Auch meine Eltern können das nicht mehr. Meine kleine Schwester auch nicht. Nur junge Menschen können sich für ihr Land einsetzen, wie du und ich. Ich arbeite für eine neue Zukunft. Ohne Faschismus, mit einer Regierung, der es egal ist, ob du Türke, Araber oder Kurde bist. Eine, die dir nicht verbietet zu sprechen, zu sehen und zu hören. Freiheit, das ist schon alles, was wir wollen.