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Eine Fahrt ins Ungewisse

Von Michael Schmölzer

Politik
Nutzt der Kurden-Konflikt den Konservativen? Der türkische Präsident Erdogan spricht beim Begräbnis eines von der PKK geöteten Polizisten.

Die Türkei steht vor Neuwahlen. Was, wenn Präsident Erdogan abermals scheitert?


Ankara. Die Türkei steuert schnurstracks Neuwahlen und damit eine höchst ungewisse Zukunft an. Der provisorische Premier Ahmet Davutoglu von der konservativ-islamischen AKP hat den Auftrag, eine Regierung zu bilden, gestern niedergelegt. Am Sonntag läuft die Frist endgültig ab, dann wird Präsident Recep Tayyip Erdogan wohl ein weiteres Votum ansetzen. Im Gespräch ist der 22. November.

Die AKP, die Erdogan treu ergeben ist, hat die letzten Wahlen im Juni zwar gewonnen, ist aber auf einen Koalitionspartner angewiesen. Doch alle Gespräche mit der Mitte-Links-Partei CHP, zuletzt auch mit der rechtsnationalen MHP, sind gescheitert. Die MHP will von der AKP einen endgültigen Verzicht auf den Friedensprozess mit den Kurden und eine Beschränkung des Einflusses von Präsident Erdogan. Das kommt beides für die AKP nicht in Frage. Eine Kooperation der pro-kurdischen HDP mit der AKP ist prinzipiell ausgeschlossen. Diese Fraktionen sind verfeindet, die neue Gewalt zwischen PKK und den türkischen Sicherheitskräften verschärft den Konflikt.

Tiefe Gräben

Die Gräben zwischen den türkischen Parteien sind tief, man könnte auch sagen: unüberwindbar. Einerseits ist es die Person des machthungrigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, die eine Einigung verhindert. Erdogan verfolgt ein höchst umstrittenes Lieblingsprojekt: Er strebt ein Präsidialsystem an, in dem das Staatsoberhaupt exekutive Gewalt ausübt. Die Opposition spricht von einem geplanten Staatsstreich, Erinnerungen an den Putsch von 1980 kommen hoch. Hier ist man davon überzeugt, dass Erdogan in den letzten Wochen nie ernsthaft über die Bildung einer Koalition nachgedacht hat. Ihm geht es rein darum, in einem zweiten Wahlgang die Absolute für seine AKP sicherzustellen und eine Änderung der Verfassung zu erwirken. Erdogan wird jedenfalls von türkischen Medien mit der Aussage zitiert, dass die "türkische Nation" nun die Gelegenheit haben sollte, den "Fehler" der letzten Parlamentswahl zu "korrigieren". Die AKP, heißt es, habe den Auftrag gehabt, die Koalitionsverhandlungen in die Länge zu ziehen um dem Präsidenten Zeit zu geben, die Neuwahlen vorzubereiten.

Auch innerhalb der Opposition ist man verfeindet. Die Sozialisten der CHP, die ultrarechte MHP und die pro-kurdische HDP hätten zusammen genug Sitze, um eine Regierung zu stellen. Vor allem MHP und HDP werden durch unüberbrückbare Gegensätze auseinandergehalten. Die MHP verfolgt einen strikt anti-kurdischen Kurs. Die HDP wiederum gilt als eigentlicher Sieger der Wahlen vom 7. Juni. Aus dem Stand gelang es ihr, die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden und ins türkische Parlament einzuziehen. Das ist vor allem für die AKP schmerzlich, die just wegen des HDP-Erfolges die absolute Mehrheit verloren hat.

Überlegungen zur Bildung einer Übergangsregierung, an der alle im Parlament vertretenen Parteien beteiligt sein sollen und die die Wahlen vorbereitet, gibt es schon. Und Erdogan hat den Wahlkampf bereits eröffnet. Die Türkei habe in der politischen Realität bereits ein Präsidialsystem, das Faktische müsse nur noch als Gesetzestext fixiert werden, meinte er zuletzt. Als Vorbild hat er etwa Frankreich im Sinn, wo die Macht weit mehr beim Präsidenten, als beim Regierungschef liegt. Die Opposition läuft Sturm, spricht von einem neuen "Hitler, Stalin oder Gaddafi".

Öl ins Feuer?

Mit Sorge wird beobachtet, dass Erdogan im Kurden-Konflikt Öl ins Feuer zu gießen scheint. Sicherheitsleute, die zuletzt Opfer von Anschlägen der PKK geworden waren, bezeichnete er als "Märtyrer". Den Konflikt, der nach dem Anschlag von Suruc an der türkisch-syrischen Grenze neue Nahrung erhalten hat, stilisiert er als Kampf "bis zum Jüngsten Tag" hoch. Erdogan nutze die Gewalt, um nationalistische Wähler für seine AKP zu gewinnen, heißt es. Auch nicht-kurdische Wähler, die im Juni für die HDP gestimmt haben, sollen abgeschreckt und zurückgeholt werden.

Dass Erdogan parallel zum Vorgehen gegen die Kurden auch der Terrormiliz Islamischer Staat ernsthaft den Krieg erklärt hat, glauben seine Kritiker keine Sekunde. Der Anti-Terrorkampf sei reiner Vorwand, um gegen die Kurden im Nordirak und im Norden Syriens vorzugehen, heißt es. Dazu kommt, dass die türkische Justiz offenbar gezielt gegen Politiker der HDP vorgeht. Gegen Parteichef Selahattin Demirtas und dessen Kollegin Figen Yüksekdag laufen Ermittlungen. Der Vorwurf: Sie sollen für die kurdischen Volksschutzeinheiten YPG und damit für eine "Terrorgruppe" Propaganda gemacht haben.

Der Ausgang der sich abzeichnenden Wahlwiederholung ist offen und die Strategie Erdogans, das Resultat vom Juni nicht zu akzeptieren, riskant. Einige Prognosen gehen davon aus, dass die AKP im zweiten Anlauf die Absolute erreichen könnte. Dann wäre Erdogan in der Lage, seine Pläne weiterzuverfolgen. Andere türkische Demoskopen, wie das Meinungsforschungsinstitut Gezici, rechnen damit, dass die AKP ganz im Gegenteil weitere Verluste erleiden und auf 39, 2 Prozent abstürzen wird. Die HDP könnte auf 14,1 Prozent anwachsen.

Dann müssten sich die politischen Kräfte im Land auf eine Form der Zusammenarbeit einigen, schließlich kann nicht ad infinitum gewählt werden. Angesichts der Gegensätze zwischen den Parteien ist aber davon auszugehen, dass jetzt Monate der wachsenden Instabilität bevorstehen. Investoren zeigten sich von den Entwicklungen bereits verschreckt. Die türkische Lira fällt kontinuierlich, in den vergangenen vier Wochen rutschte sie gegenüber dem Dollar um 7,6 Prozent ab.

  • Hintergrund: Kurden-Dossier