Vinnytsia. Oleg Krupskyy war der Erste, der in Vinnytsia mit dem Fahrrad seinen täglichen Arbeitsweg zurückgelegt hat. Er wollte nicht mehr mit dem Auto im Stau stehen oder an der Haltestelle auf den Bus warten. Seine Freunde haben versucht, ihn von der Entscheidung abzubringen. Es sei viel zu gefährlich, mit dem Fahrrad auf der Straße zu fahren, sagten sie. Auch Autofahrer schüttelten den Kopf, wenn er im Rückspiegel auftauchte und sich an ihnen vorbeischlängelte.
Vier Jahre sind seither vergangen, und Krupskyy radelt immer noch täglich durch Vinnytsia. Die Pionierleistung hat ihn in der 400.000 Einwohner-Stadt im mittleren Westen der Ukraine bekannt gemacht. Von den Vinnytsianern wird er ehrfurchtsvoll Mister Velo genannt. Und vor zwei Jahren ernannte ihn der damalige Bürgermeister Wolodymyr Hrojsman zum Fahrradkoordinator der Stadt.

Vinnytsia setzt auf Mobilitätswende: Ehemalige Zürcher Straßenbahnen (l.o.), Werkstätte der Verkehrsbetriebe (l.u.), Privater Minibus und Öffentlicher Oberleitungsbus (m.u.).
Direktor der Verkehrsbetriebe: Mikhail Lutsenko.
Radfahrer auf der Hauptstraße Soborna.
- © Bernd Vasari"Ich habe mich damals für das Fahrrad entschieden, weil es schneller ist", erinnert sich Krupskyy, ein schlanker Mann mit kurzem, schwarzem Haar, der in der IT-Branche arbeitet. "Mit Auto oder Bus brauchte ich 40 Minuten von meiner Wohnung ins Büro. Mit dem Rad sind es 20 Minuten. In relaxtem Tempo", fügt er hinzu. Außerdem komme er jeden Tag glücklich in die Arbeit, weil er sich schon bewegt hat. Seinen Arbeitsweg könne er ebenso nach Belieben ändern. "Mit dem Rad bin ich ja flexibel", sagt Krupskyy.

Aus seiner persönlichen Entscheidung vor vier Jahren ist für ihn mittlerweile eine Mission geworden. Eine Mission in einer Stadt, in der Radfahren als Sportart wie Fußball oder Landhockey gesehen wird. Man zieht sich Sportkleidung an, setzt sich einen Helm auf und trifft sich außerhalb der Stadt im Grünen. "Ich wurde gefragt, ob ich Geld bräuchte, um mir ein Auto zu leisten. Dass ich freiwillig mit dem Rad fahre, haben die Leute nicht verstanden", erzählt der Mister Velo.
Neugier statt Kopfschütteln
Heute ist er nicht mehr der Einzige, der mit dem Rad fährt. Hin und wieder erblickt man Radfahrer im Stadtverkehr, wenn sie mit ihren mehrgängigen Markenfahrrädern im Windschatten der Busse fahren, über die Fußgängerzone im Stadtzentrum brettern oder sich die Hauptstraße Soborna hoch plagen. Bei den Vinnytsianern hat ein Umdenken stattgefunden, sagt Krupskyy. Statt beim Anblick eines Radfahrers mit dem Kopf zu schütteln, seien die Menschen neugierig geworden. "Beim ersten Mal musste ich die Leute noch zu einer Radtour durch die Stadt überreden. Nach ein paar Tagen rufen sie mich an und fragen, wann ich das nächste Mal mit ihnen fahre", sagt er.
Mit zahlreichen Events wirbt er unermüdlich für seine Mission. Er veranstaltet regelmäßig Critical-Mass-Treffen, ursprünglich eine im Jahr 1992 in San Francisco entstandene Protestform, bei der Radfahrer durch gemeinsame Fahrten für Platz und mehr Rechte werben. 50 bis 60 Menschen seien jedes Mal dabei, sagt Krupskyy. Dass er zuvor Polizei und Behörden abklappern muss, um zu versichern, dass die Radgruppe nichts Böses im Schilde führt, nimmt er in Kauf. Auch eine Fahrradschule ist in Planung. Viele Vinnytsianer haben Radfahren nie gelernt.
Der Einsatz von Krupskyy scheint sich auszuzahlen. Der Radanteil am Verkehrsaufkommen liegt mittlerweile bei zwei Prozent. Und die Stadt hat begonnen, Radwege zu bauen. Unter Aufsicht des Missionars, der dabei Passanten erfolgreich animiert, mit dem Pinsel die Mittelstreifen zu malen. "Wir beziehen sie ein. Die Menschen sollen Teil der Mobilitätswende sein", sagt Krupskyy. Ob er glaubt, dass der derzeitige Fahrrad-Trend in Europas Städten nun auch in Vinnytsia erfolgreich Fuß fassen könnte? "Radfahren ist kein Trend, sondern die Rückkehr zur Normalität. Gesund leben, Bewegung und auf die Umwelt achten, das sollte doch normal sein." Das Auto sieht er nur als Ergänzung.
Näher an Europa rücken
So sieht es neuerdings auch die Stadtregierung, die sich bis 2020 einen grünen Anstrich verpassen und damit laut Stadtregierung näher an Europa rücken will. Ein gesunder Lebensstil, Energieeffizienz, Nachhaltigkeit sind die Stichworte der ehrgeizigen Reformpläne. Und natürlich Mobilitätswende. Statt mit dem Auto sollen die Vinnytsianer mehr Wege mit dem Fahrrad, der Straßenbahn und den elektrischen Oberleitungsbussen zurücklegen, so die Ziele der Transport-Reform von 2012. Dass die Stadtregierung seit etwa fünf Jahren auf grüne Verkehrsmittel setzt, ist aber vor allem einer glücklichen Fügung zu verdanken. Denn ohne fremde Hilfe hätte die finanziell angeschlagene Stadt von einer Mobilitätswende nur träumen können.
In Zürich entschied man sich Anfang der Nullerjahre, die 40 Jahre alten Straßenbahnen mit Stufeneinstieg gegen neue Niederflurzüge zu ersetzen. Für die ausrangierten blauen Fahrzeuge, die seit den Sechzigerjahren in der Schweizer Bankenstadt im Einsatz waren, suchte man daraufhin einen Abnehmer. Die Zürcher Straßenbahnen plus Ersatzteile würden gratis geliefert und verschenkt werden, so das Angebot. Ein Verkauf lohnte sich aus Schweizer Sicht nicht mehr. Man hätte die alten Trams renovieren und mit einem Kaufvertrag auch noch Haftung übernehmen müssen. Die Kosten für Personalschulung und Transport sollten vom Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft übernommen werden.