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Schweizer Straßenbahnen lösten ukrainische Mobilitätswende aus

Von Bernd Vasari

Politik

Auch im ukrainischen Vinnytsia sollen nun die Bürger statt mit dem Auto mehr Wege mit dem Fahrrad und den Öffis zurücklegen. Den Impuls für den Paradigmenwechsel bekam die Stadt durch eine Schenkung von 116 Zürcher Straßenbahnen.


Vinnytsia. Oleg Krupskyy war der Erste, der in Vinnytsia mit dem Fahrrad seinen täglichen Arbeitsweg zurückgelegt hat. Er wollte nicht mehr mit dem Auto im Stau stehen oder an der Haltestelle auf den Bus warten. Seine Freunde haben versucht, ihn von der Entscheidung abzubringen. Es sei viel zu gefährlich, mit dem Fahrrad auf der Straße zu fahren, sagten sie. Auch Autofahrer schüttelten den Kopf, wenn er im Rückspiegel auftauchte und sich an ihnen vorbeischlängelte.

Vier Jahre sind seither vergangen, und Krupskyy radelt immer noch täglich durch Vinnytsia. Die Pionierleistung hat ihn in der 400.000 Einwohner-Stadt im mittleren Westen der Ukraine bekannt gemacht. Von den Vinnytsianern wird er ehrfurchtsvoll Mister Velo genannt. Und vor zwei Jahren ernannte ihn der damalige Bürgermeister Wolodymyr Hrojsman zum Fahrradkoordinator der Stadt.

"Ich habe mich damals für das Fahrrad entschieden, weil es schneller ist", erinnert sich Krupskyy, ein schlanker Mann mit kurzem, schwarzem Haar, der in der IT-Branche arbeitet. "Mit Auto oder Bus brauchte ich 40 Minuten von meiner Wohnung ins Büro. Mit dem Rad sind es 20 Minuten. In relaxtem Tempo", fügt er hinzu. Außerdem komme er jeden Tag glücklich in die Arbeit, weil er sich schon bewegt hat. Seinen Arbeitsweg könne er ebenso nach Belieben ändern. "Mit dem Rad bin ich ja flexibel", sagt Krupskyy.

Aus seiner persönlichen Entscheidung vor vier Jahren ist für ihn mittlerweile eine Mission geworden. Eine Mission in einer Stadt, in der Radfahren als Sportart wie Fußball oder Landhockey gesehen wird. Man zieht sich Sportkleidung an, setzt sich einen Helm auf und trifft sich außerhalb der Stadt im Grünen. "Ich wurde gefragt, ob ich Geld bräuchte, um mir ein Auto zu leisten. Dass ich freiwillig mit dem Rad fahre, haben die Leute nicht verstanden", erzählt der Mister Velo.

Neugier statt Kopfschütteln

Heute ist er nicht mehr der Einzige, der mit dem Rad fährt. Hin und wieder erblickt man Radfahrer im Stadtverkehr, wenn sie mit ihren mehrgängigen Markenfahrrädern im Windschatten der Busse fahren, über die Fußgängerzone im Stadtzentrum brettern oder sich die Hauptstraße Soborna hoch plagen. Bei den Vinnytsianern hat ein Umdenken stattgefunden, sagt Krupskyy. Statt beim Anblick eines Radfahrers mit dem Kopf zu schütteln, seien die Menschen neugierig geworden. "Beim ersten Mal musste ich die Leute noch zu einer Radtour durch die Stadt überreden. Nach ein paar Tagen rufen sie mich an und fragen, wann ich das nächste Mal mit ihnen fahre", sagt er.

Mit zahlreichen Events wirbt er unermüdlich für seine Mission. Er veranstaltet regelmäßig Critical-Mass-Treffen, ursprünglich eine im Jahr 1992 in San Francisco entstandene Protestform, bei der Radfahrer durch gemeinsame Fahrten für Platz und mehr Rechte werben. 50 bis 60 Menschen seien jedes Mal dabei, sagt Krupskyy. Dass er zuvor Polizei und Behörden abklappern muss, um zu versichern, dass die Radgruppe nichts Böses im Schilde führt, nimmt er in Kauf. Auch eine Fahrradschule ist in Planung. Viele Vinnytsianer haben Radfahren nie gelernt.

Der Einsatz von Krupskyy scheint sich auszuzahlen. Der Radanteil am Verkehrsaufkommen liegt mittlerweile bei zwei Prozent. Und die Stadt hat begonnen, Radwege zu bauen. Unter Aufsicht des Missionars, der dabei Passanten erfolgreich animiert, mit dem Pinsel die Mittelstreifen zu malen. "Wir beziehen sie ein. Die Menschen sollen Teil der Mobilitätswende sein", sagt Krupskyy. Ob er glaubt, dass der derzeitige Fahrrad-Trend in Europas Städten nun auch in Vinnytsia erfolgreich Fuß fassen könnte? "Radfahren ist kein Trend, sondern die Rückkehr zur Normalität. Gesund leben, Bewegung und auf die Umwelt achten, das sollte doch normal sein." Das Auto sieht er nur als Ergänzung.

Näher an Europa rücken

So sieht es neuerdings auch die Stadtregierung, die sich bis 2020 einen grünen Anstrich verpassen und damit laut Stadtregierung näher an Europa rücken will. Ein gesunder Lebensstil, Energieeffizienz, Nachhaltigkeit sind die Stichworte der ehrgeizigen Reformpläne. Und natürlich Mobilitätswende. Statt mit dem Auto sollen die Vinnytsianer mehr Wege mit dem Fahrrad, der Straßenbahn und den elektrischen Oberleitungsbussen zurücklegen, so die Ziele der Transport-Reform von 2012. Dass die Stadtregierung seit etwa fünf Jahren auf grüne Verkehrsmittel setzt, ist aber vor allem einer glücklichen Fügung zu verdanken. Denn ohne fremde Hilfe hätte die finanziell angeschlagene Stadt von einer Mobilitätswende nur träumen können.

In Zürich entschied man sich Anfang der Nullerjahre, die 40 Jahre alten Straßenbahnen mit Stufeneinstieg gegen neue Niederflurzüge zu ersetzen. Für die ausrangierten blauen Fahrzeuge, die seit den Sechzigerjahren in der Schweizer Bankenstadt im Einsatz waren, suchte man daraufhin einen Abnehmer. Die Zürcher Straßenbahnen plus Ersatzteile würden gratis geliefert und verschenkt werden, so das Angebot. Ein Verkauf lohnte sich aus Schweizer Sicht nicht mehr. Man hätte die alten Trams renovieren und mit einem Kaufvertrag auch noch Haftung übernehmen müssen. Die Kosten für Personalschulung und Transport sollten vom Schweizer Staatssekretariat für Wirtschaft übernommen werden.

Wolodymyr Hrojsman, der 2005 zum Bürgermeister von Vinnytsia gewählt wurde, zeigte sofort Interesse und nahm das Angebot der Schweizer an. Von 2007 bis 2011 wurden 116 Straßenbahnen importiert. Der technische Direktor der Verkehrsbetriebe Vinnytsia, Mikhail Lutsenko, erinnert sich: "Die Schweizer haben den Fahrzeugen nur noch wenige Jahre gegeben. Wir haben sie allerdings in ihre Einzelteile zerlegt und sie noch einmal fit gemacht. Die Fahrzeuge sind jetzt wie neu und werden noch viele Jahre fahren." Auch einen neuen Anstrich haben die Straßenbahnen bekommen. Die Farbe blieb jedoch gleich. Der Direktor führt durch die betriebseigene Werkstatt. Ein paar Änderungen mussten an den Straßenbahnen vorgenommen werden, sagt Lutsenko. Im Inneren der Fahrzeuge wurden fast alle Beschriftungen ins Ukrainische übersetzt. Das Schild, man solle den Fahrschein vor dem Einsteigen lösen, wurde hingegen weggenommen. In Vinnytsia gibt es keine Automaten, sondern Ticketverkäufer in jeder Bim. Das Original-Schild, auf dem das Baujahr 1967 und die nachfolgenden Revisionen angegeben wurden, ist hingegen geblieben.

In Vinnytsia war das Stadtbild, so wie in den meisten Städten der Ukraine und zuvor der Sowjetunion, jahrzehntelang geprägt von orthodoxen Kirchen, schnell hochgezogenen Plattenbauten und jeder Menge Autos und Bussen, die über die holprigen Straßen bretterten. Es gab zwar ein Straßenbahnnetz, das jedoch sehr stiefmütterlich behandelt wurde. So riss man etwa die Schienen auf der zum Bahnhof führenden Hauptstraße Kotsjubynskoho Prospekt aus dem Boden, als die Stadt für die Olympischen Spiele 1980 auf Hochglanz poliert wurde. Man wollte sich als moderne Stadt präsentieren. Die "altmodische" Straßenbahn passte da nicht ins Bild.

Die Unabhängigkeit der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 brachte eine Welle an Privatisierungen mit sich. Zum Nachteil der Städte, die wie Vinnytsia pleitegingen und daher auch kein Geld mehr für den öffentlichen Verkehr aufbringen konnten. Die Lücke füllten privat betriebene Minibusse mit dem Namen Marshrutkas, die von der Stadt Lizenzen erhielten. Für die Betreiber ein lukratives Geschäft zulasten der Straßenbahnen. Gab es am Anfang der Neunziger Jahre noch neun Bim-Linien, so sank die Zahl um mehr als die Hälfte auf vier Linien gegen Ende des Jahrzehnts.

Zahlende Mehrheit fuhr mit privaten Minibussen

Der Niedergang der Straßenbahn endete mit der Schweizer Schenkung. Hrojsman nahm dies zum Anlass, das gesamte Verkehrssystem in Vinnytsia zu reformieren und neu aufzustellen. So wurde auch die Busflotte auf 150 elektrische Oberleitungs-Fahrzeuge ausgebaut. Die Minibusse kamen unter die Kontrolle der Stadt. Die Betreiber wurden verpflichtet, nur noch vorgegebene Routen abseits der Öffi-Linien zu fahren.

Damit löste der Bürgermeister ein grundlegendes Problem. Denn bis dahin nutzen die Öffis vorwiegend Personen, die per ukrainischem Gesetz kostenlos fahren dürfen. Darunter etwa Armeeangehörige und Pensionisten. Die zahlende Mehrheit fuhr mit den schnelleren und flexibleren Minibussen. Der Staat sollte zwar die fehlenden Einnahmen durch die Gratispassagiere ausgleichen, tat es aber nicht.

Heute erhält sich das Öffi-Netz von selbst, wenn auch unter selbst auferlegten Sparmaßnahmen. Für die Erneuerung der ausgeleierten Bimgleise fehlt das Geld. "Die Straßenbahnen müssen halt langsamer fahren", sagt Lutsenko. Dafür leistet sich die Stadt einen Schweizer Stadtplaner, der von Hrojsman in der Verwaltung als stellvertretender Direktor für die Abteilung Urbane Entwicklung eingesetzt wurde. Urs Thomann soll dafür sorgen, dass die Reform des öffentlichen Verkehrssystems nach Schweizer Vorbild durchgeführt wird. Effizient, bürgerorientiert und verlässlich.

Er lädt zu einer Fahrt mit einer der blauen Straßenbahnen aus Zürich ein. Es würden viele in der Verwaltung bereits über ihren Schatten springen, sagt er, als er sein Ticket vom Schaffner kauft. Doch um die vorgegebenen Ziele der Transport Reform zu erreichen, müsste in den Entscheidungsprozessen der Stadt ein Umdenken stattfinden. Ein großes Problem sei etwa, dass es ein Linien- und kein Netzdenken gebe. Die Straßenbahn- und Buslinien seien nicht aufeinander abgestimmt, sagt Thomann. Beim Umsteigen komme es daher oftmals zu langen Wartezeiten. Außerdem kann man einen Fahrschein immer nur für die jeweilige Fahrt kaufen. Wechselt man in eine andere Linie verfällt die Gültigkeit.

Weiters wolle die Stadt zwar den Anteil des Autos am Verkehrsaufkommen reduzieren. Bei der Umsetzung fördert man aber weiterhin den Autoverkehr. So sei eine Ringstraße um Vinnytsia geplant. Für Thomann der falsche Weg: "Straßen werden immer Autos anziehen. Mein Vorschlag ist eine Korridorbewegung durch die Stadt mit einem leistungsstarkem öffentlichen Verkehr, der auch an den Rändern der Stadt eine echte Alternative zum Auto darstellt." Seine Rolle als "der Schweizer", habe positive und negative Seiten. Ideen und Vorschläge von Thomann bekommen zwar stets Anerkennung. Eine Idee aus dem Westen, das könne ja nur richtig sein, heißt es dann, erzählt Thomann. Bei der Umsetzung ist diese Zuschreibung aber oftmals ein Hindernis: "Bei uns in der Ukraine funktioniert das nicht, weil es in der Schweiz funktioniert. Wir haben eine andere Mentalität. Das klappt doch nie", bekommt er oft zu hören.

Ukrainische Landesgesetze hemmen Mobilitätswende

Neben der Mentalität hemmen auch viele der ukrainischen Landesgesetze den Ausbau der nicht-motorisierten Transportmittel. So wie etwa bei den Radwegen. "Laut Gesetz können Autofahrbahnen nicht für Radspuren hergegeben werden", sagt Thomann. "Deshalb müssen sie auf den Gehwegen gebaut werden. Die Wege werden dann geteilt: eine Hälfte für Fahrräder, die andere Hälfte für Fußgänger." Es gebe aber auch Fortschritte. Bis vor kurzem galt das Fahrrad laut Gesetz noch nicht als Verkehrsmittel.

Die Transport Reform von 2012 sei der richtige Schritt gewesen, betont der Städteplaner. Viele Projekte seien initiiert worden. Leider sei der Prozess etwas ins Stocken geraten, nachdem Bürgermeister Hrojsman im Februar 2014 ins ukrainische Parlament nach Kiew wechselte. Viele Beamte sind mit dem Bürgermeister mitgegangen. Die fehlen nun in der Stadtverwaltung. Auch die schlechte Wirtschaftslage und der Währungsverfall der ukrainischen Hrywnia haben die Euphorie deutlich gebremst.

Deutlich optimistischer zeigt sich hingegen Oleg Krupskyy, der Mister Velo von Vinnytsia. "Unsere Stadt ist die drittfreundlichste Radstadt in der Ukraine", sagt er. Sein Blick verrät, dass dies nur ein Ansporn sein kann, die radfreundlichste Stadt im Land zu werden. "Es ist möglich", platzt es aus ihm heraus. Mit seinem nächsten Projekt könnte Vinnytsia ein paar Punkte gut machen und vielleicht auf Platz zwei hinaufklettern. "So wie in anderen Städten möchte ich auch hier ein Bike-Sharing-System aufziehen."

Einfach werde es nicht, sagt er. Denn die Vinnytsianer würden nicht verstehen, warum man ein Fahrrad teilen soll: "Entweder man besitzt eines, oder eben nicht." Mit einem Pilotprojekt will Krupskyy seine Landsleute umstimmen. Dabei sollen die Mitarbeiter der Stadtverwaltung die Möglichkeit bekommen, sich Räder auszuborgen. "Sie haben eine gewisse Verantwortung und wissen, dass sie die Räder auch wieder zurückgeben sollen." Danach sollen auch die Bürger sich Fahrräder ausborgen können. Ob es klappen werde? Krupskyy nickt: "Davon gehe ich aus."

Wirtschaftskrise, Währungsverfall, politische Veränderungen. Egal, wie es in Vinnytsia weitergeht, eines steht jetzt schon fest: Zumindest Oleg Krupskyy wird sich von seiner Mission nicht abbringen lassen.