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Gefährliche Kriegsspiele

Von Gerhard Lechner

Politik

Russland und die Nato bereiten sich auf den Ernstfall vor. Bei den Manövern in Osteuropa wird scharf geschossen.


Washington/Berlin. Vier Tote und 14 Verletzte bei neu aufgeflammten Kämpfen in der Ostukraine. Russlands Präsident Wladimir Putin wirft ausländischen Kräften in "gewissen Hauptstädten" vor, "subversive Aktivitäten" auf der Halbinsel Krim zu planen. Die Nato baut im östlichen Bündnisgebiet an der Grenze zu Russland insgesamt sechs lokale Hauptquartiere auf, Planungs- und Koordinierungszentren für die neuen schnellen Eingreiftruppen (VJTF). Und US-Verteidigungsminister Ashley Carter sieht in Russland eine "sehr, sehr ernste Bedrohung": Meldungen, die im Spätsommer 2015 die politische Normalität zwischen Russland und dem Westen widerspiegeln.

Der Kalte Krieg, der 1991 der Geschichte anzugehören schien, ist wieder voll ausgebrochen. Der prominent besetzte Londoner Think Tank "European Leadership Network" (ELN) sieht die Gefahr, dass die Lage eskaliert: Es gebe ein reales Risiko, dass Konflikte zwischen den Streitparteien einen Krieg unbeabsichtigt auslösen, warnt die Organisation. In dem Papier "Vorbereitung auf das Schlimmste: Machen die Militärübungen von Russland und Nato einen Krieg in Europa wahrscheinlicher?" hat ELN die Manöver, die beide Seiten in den letzten Monaten vermehrt durchgeführt haben, untersucht. Den Beteuerungen, wonach sich die Übungen gegen fiktive Gegner richten, schenken die Londoner Experten keinen Glauben. "Russland bereitet sich auf einen Konflikt mit der Nato und die Nato bereitet sich auf eine mögliche Konfrontation mit Russland vor", heißt es in dem ELA-Bericht.

Trainieren mit Blick auf die Stärken des anderen

Die Manöver würden zeigen, dass beide Seiten mit Blick auf die Fähigkeiten des anderen trainierten. "Jede Übung wird von der Gegenseite als Provokation angesehen, es entsteht eine Dynamik des Misstrauens und der Unberechenbarkeit", sagte dazu ELN-Direktor Ian Kearns. Geschossen wird mit scharfer Munition. So könne gewissermaßen aus Versehen ein Krieg entstehen.

"Militärische Konfrontationen können immer unberechenbar werden", sagt dazu der Sicherheitsexperte Heinz Gärtner. Der Leiter des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (OIIP) lässt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" aber durchklingen, dass er derzeit keine Anzeichen für eine totale Eskalation zwischen Russland und der Nato sieht. "Im Moment halten sich beide Seiten zurück", meint der Politologe. Man halte sich an die gemeinsam geschlossenen Abkommen: Die Nato stationiere ihre Truppen nicht permanent in Russlands Nachbarstaaten, Russland halte sich in der Ukraine zurück und verzichte - einstweilen zumindest - auf einen Korridor zwischen der Ostukraine und der an Russland angegliederten Krim. "Derzeit sieht es nach einem eingefrorenen Konflikt aus", meint Gärtner. Dennoch sei man in Muster des Kalten Krieges zurückgefallen. "Die schnelle Nato-Eingreiftruppe, die jetzt in Osteuropa aufgestellt wird, folgt dem Muster der ,Berlin-Brigade‘, die zur Zeit der Berlin-Blockade dort stationiert war", erinnert Gärtner.

Aber welchen militärischen Wert haben die Eingreiftruppen im Konfliktfall tatsächlich? Viele Militärexperten halten die Stationierung von jeweils einer Kompanie Soldaten in den baltischen Staaten und Polen zwar für ein Signal an Moskau, dass der Westen bereit sei, im Konfliktfall seine Verbündeten nicht im Stich zu lassen. Im Falle einer massiven russischen Invasion wären diese Truppen aber schnell aufgerieben. Doch welches Interesse sollte Russland an einem Krieg mit der Nato haben? "Man darf nicht vergessen: Russland ist militärisch ein Zwerg - mit Ausnahme der Atomwaffen", gibt Gärtner zu bedenken. "Die Militärausgaben Moskaus betragen gerade acht Prozent von denen der Nato. Putin ist kein Stalin und kein Breschnew mehr. Russland hat einfach nicht mehr diese Macht", sagt der Politologe.

Atomraketen alsallerletzte Trumpfkarte

Dass Russland - etwa in den baltischen Staaten - einen asymmetrischen Konflikt vom Zaun brechen könnte, glaubt Gärtner nicht. "Würden russische Truppen, sagen wir, ein litauisches Dorf besetzen, würde wahrscheinlich die Nato aufmarschieren. Russland müsste dann wohl abziehen und stünde als Verlierer da", meint der Sicherheitsexperte. Nur ein massiver Angriff könnte Russland kurzzeitig militärische Erfolge, aber keinen Sieg bringen.

Bleiben die Atomwaffen. Sie sind der letzte große Trumpf Moskaus. Umso ärgerlicher für den Kreml, dass die USA (spätestens) seit den Zeiten von Ex-Präsident George W. Bush auf diesem Feld eine aggressive Politik gegen Russland betreiben. 2002, während der ersten Amtszeit Putins, als es im Zeichen des Kampfes gegen den Terror zwischen Moskau und Washington ein gutes Einvernehmen gab, kündigten die USA unter Bush den ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen auf. Man wollte nun einen Raketenschild aufbauen - mit Komponenten in Osteuropa, die, so wurde und wird behauptet, anfliegende Raketen aus "Schurkenstaaten" wie dem Iran abfangen sollten. Im Kreml wurde dieser Schritt - ebenso wie die Förderung sogenannter Farb-Revolutionen in Russlands Nachbarschaft - als Kampfansage aufgefasst.

Moskau befürchtete ebenso wie einige westliche Experten, dass die in Osteuropa stationierten Raketen das nukleare Gleichgewicht, das es seit den 1960er Jahren gibt, aus den Angeln heben könnten. Jene Raketen, die Russland nach einem Erstschlag noch verblieben, um den Kriegsgegner vernichtend zu treffen, könnten dann abgefangen werden, befürchtete man - und modernisierte seinerseits das eigene Raketenarsenal. Mittlerweile verfügt das technologisch rückständige Russland wieder über moderne, manövrierfähige Atomraketen. Sie sollten dem Nato-Schild, dessen Funktionieren ohnedies ungewiss ist, trotzen können.

An Stabilität oder gar Frieden erinnert dieses asymmetrische Kräftemessen nicht. Manche Experten erinnert Russland an einen angeschlagenen, in die Ecke getriebenen Boxer. Und ein solcher ist eher unberechenbar.