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Perspektive nur auf dem Papier

Von Alexander Dworzak

Politik

Politologe Vedran Dzihic kritisiert das mangelnde Interesse wichtiger EU-Länder am Westbalkan.


Vor 22 Jahren kam Vedran Dzihic als Flüchtling von Bosnien-Herzegowina nach Österreich. Mittlerweile ist der Politologe ein renommierter Balkan-Experte. Die "Wiener Zeitung" sprach mit Dzihic anlässlich des am Donnerstag in Wien stattfindenden Westbalkan-Gipfels, der auch im Zeichen der aktuellen Flüchtlingskrise steht.

"Wiener Zeitung":Provokant gefragt: Welche Regierung wirkt überforderter mit dem derzeitigen Flüchtlingsansturm, die österreichische oder die mazedonische?Vedran Dzihic: Beide sind überfordert, jedoch aus unterschiedlichen Ausgangspositionen und Gründen: Mazedonien ist ein Land am Rande des Abgrunds, mit einer autoritären Regierung, sozioökonomisch am Boden und mit einem tiefen Konflikt zwischen Mazedoniern und Albanern. Entsprechend sind die Flüchtlingskapazitäten nicht gegeben, die Überforderung ist elementar und fundamental. Die Überforderung ist den dortigen Strukturen geschuldet, während sie in Österreich selbst herbeigeführt ist. SPÖ und ÖVP haben Angst vor dem rechten Lager und sich dessen Diskurs angepasst. Die beiden Parteien waren in den vergangenen 20 Jahren zu feige. In einem der reichsten Länder der EU müssen die Flüchtlingskapazitäten anders aussehen.

Trotz schlechter Grundvoraussetzungen wie in Mazedonien stellt Serbiens Premier Aleksandar Vucic neue Unterkünfte bereit.

Serbien ist ebenfalls überfordert, aber Vucic ist ein guter Machtstratege mit rhetorischem Geschick. Er stellt sich als Wohltäter dar, um Pluspunkte bei EU, Österreich und Deutschland zu sammeln. Diese Punkte wird er einlösen, etwa in Form von Zugeständnissen bei Infrastrukturprojekten und finanzieller Unterstützung der Union in der Flüchtlingsfrage.

Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung in Serbien und Mazedonien gegenüber den Flüchtlingen?

In Mazedonien wird der Regierung teils vorgeworfen, mit der Verhängung des Ausnahmezustands unmenschlich reagiert zu haben. Neben Wohltätern gibt es auch hier Stimmen, die Flüchtlinge als Belastung sehen, die nach Hilfe der EU rufen oder schlicht rassistisch sind. In der serbischen Debatte sind die Flüchtlinge ein großes, aber nicht das bestimmende Thema; das sind die Verhandlungen zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo.

Wie wurde das Versagen der EU in der Flüchtlingsfrage in den lokalen Medien kommentiert?

Die Debatte wird nicht intensiv geführt, die Öffentlichkeiten sind in den Westbalkan-Staaten sehr selbstreferenziell. Aufgrund der drängenden Probleme zuhause werden oft internationale Diskurse ausgeklammert.

Abseits des Flüchtlingsthemas widmet sich der Gipfel wieder den "Klassikern" Rechtssicherheit, Infrastruktur und bessere Wettbewerbsfähigkeit. Was ist in diesen Bereichen seit dem Westbalkan-Gipfel in Berlin 2014 geschehen?

Der sogenannte Berliner Prozess hat etwas gebraucht, um in Schwung zu kommen, in Wien werden aber konkrete Projekte präsentiert. Darunter sind ein Infrastrukturprojekt, das Grenzabkommen zwischen Bosnien-Herzegowina und Montenegro und ein Jugendaustauschprogramm zwischen Serbien und Albanien. Andererseits sind in dem gesamten Prozess wichtige EU-Länder nicht involviert. Frankreich, Gastgeber der Konferenz 2016, ist nun nicht einmal in Wien vertreten. Es fehlt daher die politische Bekräftigung der Erweiterungsperspektive für die Staaten des Westbalkans. Auch sind zentrale politische Fragen wie der Namensstreit zwischen Griechenland und Mazedonien weiter offen.

Deutschland und Großbritannien haben im vergangenen Jahr gemeinsam die Neuausrichtung ihrer Bosnien-Politik bekanntgegeben; Österreich war dabei außen vor. Wie wichtig ist Österreich innerhalb der EU für den Westbalkan?

Mit dem Berliner Prozess hat Österreich mit Deutschland eine starke gestalterische Rolle übernommen. Das geringe Interesse einiger Mitgliedsländer an der Region hat für Österreich den Vorteil, dass es in einer Nische punkten kann. Es stellt sich aber die Frage, wie neben symbolischen Ereignissen wie dem Wiener Gipfel substanzielle Erfolge gefeiert werden können. Zusätzliche Gelder für Entwicklungszusammenarbeit und zivilgesellschaftliche Projekte in der Region wären wünschenswert.

In Bosnien begehrten die Bürger 2014 gegen die Korruption in Politik und Verwaltung sowie die hohe Arbeitslosigkeit auf. Sind die Proteste eingeschlafen, weil die Zivilgesellschaft zu schwach ist, oder weil die Leute primär damit beschäftigt sind, ihr Überleben zu sichern?

Die Alltagsprobleme sind groß und die Eliten haben alles getan, um die Proteste zu ersticken. Dennoch sind sie die wichtigste demokratiepolitische Entwicklung in den vergangenen 20 Jahren. Eine solche emanzipatorische Energie braucht das Land - und sie ist noch vorhanden. Weitere Proteste in Bosnien und anderen Westbalkan-Ländern sind zu erwarten, schließlich werden die Lebensumstände der Bürger nicht besser.

Vor 20 Jahren sicherte das Dayton-Abkommen den Frieden in Bosnien. Seit langem ist es aber durch den ethnischen Proporz zwischen Bosniaken, Serben und Kroaten ein Hemmschuh. Wie weiter?

Damit die international angestrebten wirtschaftlichen Reformen greifen können, muss es eine politische Lösung geben. Die Dayton-Verfassung muss aufgeschnürt werden.

Vedran Dzihic ist ist Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik und Lektor an der Universität Wien.