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"Solidarität ist keine Einbahnstraße"

Von Thomas Seifert

Politik
"Wir haben ein Problem mit dem Begriff Solidarität, weil jeder Solidarität anders interpretiert", sagt der deutsche Staatsminister für Europa, Michael Roth (SPD).
© Luiza Puiu

Der deutsche Europa-Staatssekretär plädiert für einen neuen europäischen Ansatz in der Flüchtlingsfrage.


Alpbach. Michael Roth kann das herrliche Wetter in Alpbach kaum genießen. Zuerst sitzt er auf einer Panel-Diskussion des europäischen Forums Alpbach, danach macht er sich auf den Weg nach Slowenien, wo politische Gespräche auf dem Programm stehen und er ebenfalls an einer Podiumsdiskussion teilnimmt. Roth (geboren 1970 in Heringen) ist seit 2013 SPD-Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland im Kabinett Merkel III und der politische Stellvertreter des Bundesminsters Frank-Walter Steinmeier. Roth ist seit 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages, bei der Bundestagswahl 2013 war er Spitzenkandidat der hessischen Sozialdemokraten. Privates: Roth verpartnerte sich am 24. August 2012 mit seinem langjährigen Freund.

"Wiener Zeitung": Nach den Ereignissen der vergangenen Tage sieht es so aus, als hätte Ungarn nun vor der Herausforderung der Bewältigung des Flüchtlingszustroms kapituliert.Michael Roth: Zuerst einmal muss man sagen: Die Dublin-Verordnung (nach dem Schutzbedürftige im jenen EU-Land, über das sie in die Union eingereist sind, ihr Asylverfahren anstrengen sollen, Anm.) ist geltendes Recht in Europa. Wir drängen aber auf eine gerechte und solidarische Verteilung von Flüchtlingen. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Deshalb muss es jetzt auch dabei bleiben, dass die zu uns kommenden Flüchtlinge dort registriert werden, wo sie in der EU eintreffen. Wir müssen zudem endlich auch die humanitären Standards für die Unterbringung von Flüchtlingen, auf die wir uns schon lange verständigt haben, konkret umsetzen. Und wir brauchen einen gemeinsame Schutz der EU-Außengrenzen und dürfen hierbei nicht jene Staaten alleine lassen, die - angesichts der vielen Menschen, die jetzt Zuflucht in Europa suchen - mit dieser Frage komplett überfordert sind.

Von einer Vergemeinschaftung der Problemlösung kann derzeit aber keine Rede sein: Wir erleben das Gegenteil: Europas Nationalstaaten versuchen, sich abzuschotten, stellen die unter anderem im Schengener Abkommen geregelte Personenfreizügigkeit in Frage und ziehen Grenzzäune in die Höhe.

Wissen Sie: ich bin im Windschatten der innerdeutschen Grenze im Westen groß geworden. Das hat mich politisch geprägt und ich würde mich niemals mit einem Europa abfinden, in dem neue Zäune und Mauern hochgezogen werden. Das kann kein zukunftsweisendes, tragfähiges Konzept zur Lösung von tatsächlich vorhandenen Problemen sein. Momentan haben wir ein Problem mit dem Begriff Solidarität - weil jeder Solidarität anders interpretiert. Es mögen doch bitte jeweils die anderen solidarisch sein, heißt es da allerorten.. So kann das aber nicht funktionieren. Solidarität setzt immer voraus, dass man sich mit Empathie in die Lage des jeweils anderen Partners hinein zu versetzen vermag. Was den Balten und Polen ihre Sicherheit ist, sind den Italienern die Flüchtlinge, ist den Griechen die wirtschaftliche Lage oder den Spaniern das Problem der Jugendarbeitslosigkeit. Das müssen Sie alles wieder zusammenbringen. Alle Seiten müssen begreifen: Die Renationalisierung der allermeisten Probleme bringt uns in der Europäischen Union nicht voran. Wir brauchen gemeinsame europäische Lösungen. Das gilt auch für die Migration und Flüchtlingspolitik.

Europäische Politikerinnen und Politiker beschwören in Sonntagsreden stets die europäische Wertegemeinschaft. Wie steht es um diese Wertegemeinschaft?

Wir brauchen in der EU eine Verständigung über unser Gesellschaftskonzept. Ich sehe mit extremer Sorge, dass es diesen Konsens derzeit nicht gibt. Europa basiert auf offenen, liberalen, wertegebundenen Gesellschaften, die sich multireligiös, multiethnisch und multikulturell verstehen. Gleichförmige Blöcke, Nationalstaaten alter Prägung, die auf einer homogenen Bevölkerung oder nur einer Religion fußen, sind nicht zukunftstauglich, das sage ich in einem Land wie Österreich, das sich immer auch als multiethnisch verstanden hat. Deutschland sieht - als demografisch schrumpfendes Land, als Land mit einem wachsenden Arbeitskräftebedarf - in der Einwanderung auch eine große Chance. Voraussetzung dafür ist aber, dass wir den Menschen, die jetzt zu uns kommen, konkrete Integrationsangebote unterbreiten. Das heißt, dass sie schnellstmöglich unsere Sprache erlernen, dass sie sich mit ihren Talenten einbringen können, dass sie an unserem Bildungs- und Qualifizierungssystem schnellstmöglich teilhaben können und dass sie gleichberechtigte Mitglieder unserer Gesellschaft werden. Da gibt es nun auch bei den Flüchtlingen sehr viele Menschen, von denen ich vermute - nein, ich mir sogar erhoffe - dass sie über kurz oder lang in Deutschland bleiben werden.

Müssen Deutschland und Europa in der Flüchtlingsfrage nicht viel mehr leisten?

Selbstverständlich müssen wir die Lage der Flüchtlinge in den sogenannten Transitländern, in denen sie vorübergehend Aufnahme gefunden haben, weiter verbessern helfen. Deutschland hat zum Beispiel zuletzt konkrete humanitäre Hilfe für Flüchtlinge in Griechenland, Serbien und in Mazedonien geleistet. Wir dürfen nicht vergessen: Die Türkei hat rund zwei Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Eine Vielzahl weiterer Flüchtlinge aus Syrien lebt im Libanon oder in Jordanien - Staaten, denen es ja wirtschaftlich sehr schlecht geht.

Diese Länder müssen politisch, wirtschaftlich und sozial stabilisiert werden. Da bleibt noch sehr viel zu tun. Wir dürfen uns aber nicht mehr aufbürden, als wir tatsächlich leisten können und das beziehe ich auf die Lösung der großen Krisen in den Regionen Afrikas aber auch des Nahen und Mittleren Ostens. Die Lösung des Konflikts in Syrien - das werden Europäer alleine nicht stemmen können und das ist uns allen auch völlig klar. Dazu braucht es eine gemeinsame Kraftanstrengung der Nachbarländer, der regionalen Mächte, aber auch Europas, Russlands und der USA sowie der internationalen Staatengemeinschaft.