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Asyl - was ist faul in der EU?

Von Martyna Czarnowska, Siobhán Geets und Michael Schmölzer

Politik

Europa ist überfordert. Antworten auf zentrale Fragen.


Wien/Brüssel. Eine gemeinsame Antwort auf die Flüchtlingskrise: Was die EU seit Monaten fordert, fällt ihr selbst schwer zu erfüllen. Die EU-Kommission hat zwar einen Vorschlag präsentiert, wie 60.000 Schutzsuchende auf dem Kontinent verteilt werden könnten, doch waren die Mitgliedstaaten bisher nicht imstande, sich darauf zu einigen. Noch umstrittener als dieser Notfall-Plan ist eine fixe Quote zur Aufteilung der Menschen. Während in Brüssel diskutiert wird, nimmt in Europa das Flüchtlingsdrama seinen Lauf. In Ungarn spielten sich gestern chaotische Szenen ab. Flüchtlinge, die nach Deutschland wollten, wurden 40 Kilometer westlich von Budapest aus zwei Zügen geholt; sie sollten in ein Lager gebracht werden. Zahlreiche Schutzsuchende legten sich aus Protest auf die Geleise, es gab Festnahmen. Mittlerweile geht Deutschland davon aus, dass allein heuer 800.000 Schutzsuchende kommen werden.

Was schlägt die EU-Kommission zur Verteilung der Flüchtlinge vor?
Die Behörde hat einen Verteilungsschlüssel ausgearbeitet, in dem sie Kriterien wie Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und die Zahl bisher aufgenommener Asylsuchender berücksichtigt. Betroffen von dieser Quote sind 20.000 besonders schutzbedürftige Menschen, die in den EU-Staaten neu angesiedelt werden sollen. Diese Plätze wurden mittlerweile gefunden. Nun sollen jedoch weitere 40.000 Flüchtlinge, die nach Griechenland und Italien eingereist sind, umgesiedelt werden. Eine Verständigung darauf gibt es noch nicht.

Kann sich diese Zahl noch ändern?
Als die Kommission ihre Pläne für die Um- und Neuansiedlung der 40.000 Flüchtlinge präsentierte, hoffte sie auf die Zustimmung der Mitgliedstaaten. Mehr Asylwerber würden die Länder wohl nicht akzeptieren, hieß es im Mai. Doch mittlerweile flüchten immer mehr Menschen nach Europa. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat schon von der Verteilung von 100.000 Schutzsuchenden in der Union gesprochen. Allerdings müssten sich die Regierungen auch darauf einigen.

Warum funktioniert das bestehende Dublin-System zu Asylverfahren so schlecht?
Weil es für manche Länder eine größere Herausforderung darstellt als für andere. Das Abkommen von Dublin sieht vor, dass jener EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig ist, in dem der Schutzsuchende erstmals europäischen Boden betreten hat. Daher klagen Länder an den Außengrenzen der EU - wie Griechenland, aber auch Ungarn und Bulgarien - über eine höhere Belastung. Gleichzeitig ist nicht immer nachvollziehbar, wo die Menschen eingereist sind. Etliche von ihnen wollen sich nämlich nicht im ersten EU-Land registrieren lassen, um nicht dorthin zurückgeschickt zu werden.

Wäre eine Quotenregelung eine bessere Lösung?
Aus Sicht der EU-Kommission ja. Das EU-Parlament plädiert ebenfalls dafür. Ein automatischer Verteilungsschlüssel würde zu einer gerechteren Aufteilung der Flüchtlinge führen und die derzeitige Situation ändern, in der einige wenige Länder sich um den Großteil der Asylverfahren kümmern müssen.

Wer entscheidet darüber, ob und welche Quote zur Verteilung der Flüchtlinge auf alle Mitgliedsstaaten eingeführt wird?
Das Europäische Parlament forderte die Kommission Ende Juli auf, bis Ende 2015 einen Vorschlag für ein permanentes Verteilungssystem aller Ankommenden auszuarbeiten. Das ist noch nicht geschehen, der Verteilungsschlüssel gilt nur für die 60.000 Asylsuchenden, die aus Griechenland und Italien an andere Staaten verteilt werden sollen.

Legt die Europäische Kommission einen Gesetzesvorschlag vor, müssen der Ministerrat, also die Innenminister der Mitgliedstaaten, sowie das EU-Parlament darüber abstimmen. Damit das Gesetz implementiert wird, braucht es die Mehrheit im Parlament und eine qualifizierte Mehrheit im Ministerrat, also unter den Mitgliedstaaten. Als qualifizierte Mehrheit gilt eine Mehrheit von mindestens 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die mindestens 65 Prozent der Bevölkerung der EU ausmachen.

Die rasche Umsetzung eines Verteilungsschlüssels ist derzeit nicht sehr realistisch. Als hartnäckigste Gegner einer Asylquote gelten Ungarn, Tschechien und die Slowakei. Auch Polen, die baltischen Staaten, Spanien und Portugal wollen nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen.

Warum sind manche Mitgliedstaaten dagegen?
Ihre Regierungen zögern - oft aus innenpolitischen Gründen -, mehr Verantwortung zu übernehmen. Sie ziehen das Prinzip der Freiwilligkeit verpflichtenden Quoten vor. Die Menschen wollten ohnehin nicht nach Ungarn oder in die Slowakei, sondern nach Deutschland oder Großbritannien, heißt es etwa aus Budapest oder Bratislava. Länder wie Österreich wiederum verweisen darauf, dass sie schon jetzt mehr Asylwerber zu betreuen haben, als die Pläne der Europäischen Union vorsehen würden.

Ist das Schengen-Abkommen in Gefahr?
Am Vertrag von Schengen, der Reisen ohne Passkontrollen in weiten Teilen der EU ermöglicht, wird bereits gerüttelt. In Ländern wie Österreich und Deutschland, aber auch in Frankreich flammt die Debatte um die Wiedereinführung der Grenzkontrollen immer wieder auf. Diese ist unter bestimmten Umständen schon jetzt möglich. Das muss ein Land aber begründen - entweder damit, dass es bei Großveranstaltungen besondere Sicherheitsvorkehrungen treffen muss oder etwa mit Fahndungen nach einem Terroranschlag. Die Maßnahmen müssen jedoch zeitlich begrenzt sein.

Darf Ungarn einen Grenzzaun bauen?
Als Mitglied des Schengen-Raums ist Ungarn dazu verpflichtet, die Außengrenze der EU besonders zu sichern. Welche Form das annimmt, bleibe den Staaten überlassen, betont die Kommission. Ungarn will sich mit einem Stacheldrahtzaun über eine Länge von 175 Kilometern von Serbien abgrenzen. Auch die bulgarische Regierung hat schon zuvor an einem Abschnitt der Grenze zur Türkei einen Zaun errichten lassen.

Warum wollen gerade jetzt so viele Flüchtlinge nach Europa und nicht schon vor einem Jahr?
Da kommt ein ganzes Faktoren-Bündel zusammen. Zunächst einmal hat der Krieg in Syrien an zerstörerischer Intensität zugenommen, vor allem was Aleppo und Damaskus betrifft. Dazu kommt, dass der Libanon, der 1,2 Millionen Syrer aufgenommen hat, die Grenzen im Jänner de facto dichtgemacht hat. Den UN-Hilfsorganisationen, allen voran der UNHCR, ist das Geld ausgegangen. Das Flüchtlingshilfswerk kann in der Region oft keine Basisversorgung mehr sicherstellen. Auch haben die, die an eine Rückkehr nach Syrien gedacht haben, alle Hoffnungen mittlerweile aufgeben müssen. Zwei Millionen Syrer leben in der Türkei. Sie sind dort geduldet, finden aber kaum Jobchancen vor. Für sie ist Deutschland der große Traum. Zum Jahreswechsel 2014/15 hat die Nato Afghanistan verlassen. Sie konnte dort keinen Frieden schaffen, im Gegenteil: Die Angriffe der Taliban und anderer Rebellen häufen sich, zahllose Zivilisten werden jeden Monat getötet.

Gibt es ein europäisches Asylsystem?
Ja, allerdings umfasst es nur die wichtigsten Grundregeln: Mindestnormen für Asylverfahren, Betreuung, Anerkennung sowie die Dublin-Verordnung und Eurodac, das ist die europäische Datenbank zur Speicherung von Fingerabdrücken. Die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen spricht von einem sicheren Zugang zu Unterkunft, Verpflegung, von Beschäftigung sowie medizinischer und psychologischer Versorgung.

Wird es künftig weniger Flüchtlinge geben?
Es ist damit zu rechnen, dass der Ansturm auf Europa auch zukünftig in Wellen erfolgen wird. Krisenherde gibt es weltweit genug. Seit einigen Monaten brennt es im Jemen, einem bitterarmen Land, in dem ein blutiger Bürgerkrieg tobt. In den Krieg involviert ist eine arabische Koalition unter der Führung der Saudis und des Iran. Jetzt schon gibt es ein enormes Flüchtlingsaufkommen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie an die Tür Europas klopfen. Dazu kommen der Vormarsch des IS in Syrien und im Irak und zahlreiche afrikanische Krisenherde - etwa Boko Haram, eine radikale Sekte, die in Nigeria wütet. Die Erfahrung zeigt, dass eine Politik der Abschottung Flüchtlinge nicht abschreckt. Sie sorgt allerdings für eine Zunahme der Todesopfer.

Wie reagieren die Menschen auf das Chaos?
Ganz unterschiedlich. Eine diffuse Angst vor "Überfremdung" und Verlust der eigenen Identität ist sicherlich weit verbreitet. Auf der anderen Seite bilden sich überall spontane Initiativen ganz "normaler" Bürger, die dem ihrer Ansicht nach chaotischen Treiben der EU nicht länger zusehen wollen und selbst anpacken. So hat eine Facebook-Kampagne die isländische Regierung dazu gebracht, nicht nur 50 Schutzsuchende, sondern mehr aufzunehmen. Und österreichische Aktivisten wollen die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge auf eigene Faust nach Österreich holen. Eine Initiative unter dem Titel "Konvoi Budapest Wien - Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge" ruft über soziale Medien dazu auf, Flüchtlinge in einem Konvoi gemeinsam mit Privatautos und Bussen nach Österreich und Deutschland zu bringen.