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Gute Zäune machen schlechte Nachbarn

Von Thomas Seifert

Politik

Die neue Teilung Europas: Statt Solidarität regiert die Selbstsucht der Staaten, der neue Nationalismus bedroht die Union.


Wien. Das Bild ist Teil des fotografischen Nachlasses der Republik Österreich: Der österreichische Außenminister Alois Mock und sein ungarischer Amtskollege Gyula Horn durchschneiden am 27. Juni 1989 den Zaun am letzten Rest des an der österreichisch-ungarischen Grenze verbliebenen Eisernen Vorhangs.

Ungarns Beitrag zur Wiedervereinigung des Kontinents: Die Magyaren ermöglichten tausenden DDR-Bürgern die Flucht in die BRD - via Österreich. Die Republikflüchtlinge stimmten mit ihren Füßen ab. Und ihre Massenflucht zeigte wohl den daheimgebliebenen Menschen im "Arbeiter- und Bauernparadies": Die DDR war am Ende. Im Sommer 2015 liefert Ungarn wieder symbolgeladene Bilder - diesmal für die Spaltung Europas. Ungarn errichtet Zäune an der ungarisch-serbischen und bald auch an der ungarisch-kroatischen Grenze. Doch diesmal sollen Flüchtlinge, von Syrien, Afghanistan oder Eritrea nach Deutschland unterwegs, draußen bleiben.

Seit der Wirtschafts- und Finanzkrise findet Europa nicht mehr Tritt: Anstatt Solidarität regiert die Selbstsucht der Staaten, Kantönligeist und Nationalismus bedrohen die Idee der Union, das Trennende steht über dem Gemeinsamen.

So kann die Union nicht funktionieren: Polen zog zwar mit Hurra-Patriotismus an der Seite der USA und der Briten in den Irak-Krieg von 2003, der zumindest mittelbar zum Zerbrechen des Irak und Syriens geführt hat, sperrt sich nun aber gegen jede gesamteuropäische Lösung des aus den Wirren in der Region resultierenden Flüchtlingsproblems. Ungarn kommandierte damals übrigens Soldaten - 300 an der Zahl - für diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ab, genauso wie Tschechien (317 Soldaten) und die Slowakei (96 Soldaten). Polen, Tschechien und Ungarn waren erst im März 1999 der Nato beigetreten, die Mitwirkung am Irak-Abenteuer kann man als Dankeschön an die USA interpretieren.

Ach, Europa!

Was die Beziehungen dieser Länder zur Europäischen Union betrifft, scheint Dankbarkeit allerdings keine politische Kategorie: Vergessen sind die Milliarden an Transferleistungen, die an die Länder der Osterweiterungsrunde von 2004 geflossen sind. Vergessen ist die Öffnung des Arbeitsmarkts für zigtausende Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn, die in Irland, Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden und Österreich Arbeit gefunden haben. Ein hoher EU-Beamter in Brüssel meinte unlängst sarkastisch, die Visegrád-Länder (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) würden die Europäische Union als gigantischen Bankomaten missverstehen, bei dem man sich die Strukturmilliarden abholt. Diese Einschätzung teilt wohl auch der deutsche Vizekanzler und SPD-Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel, wie sonst wäre seine Drohung von dieser Woche zu verstehen, bei der Vergabe von Strukturmitteln hinkünftig weniger großzügig sein zu wollen? Gabriel sagte gegenüber der "Bild"-Zeitung: "Wer unsere Werte nicht teilt, kann auf Dauer auch nicht auf unser Geld hoffen."

Der Frust Deutschlands

Der Frust von Deutschland - aber auch Österreich - war besonders nach dem Treffen der EU-Innenminister am Montag groß, bei dem man sich nicht auf verpflichtende Flüchtlingsquoten für die einzelnen EU-Mitgliedsländer verständigen konnte. Am kommenden Dienstag ist allerdings ein weiteres Krisentreffen der EU-Innenminister geplant, am Mittwoch folgt ein EU-Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs.

Doch die Länder inmitten Europas müssen auch zugeben, dass das Engagement sich in Grenzen hielt, solange das Flüchtlingsproblem auf Griechenland und Italien beschränkt war. Erst als die Auswirkungen der Flüchtlingsströme Österreich und Deutschland erreichten, wurden die Regierungen in diesen Ländern aktiv.

Immerhin hat man in Brüssel, aber auch in Berlin und Paris das Problem erkannt: Zuletzt gab es spürbar verstärkte Aktivitäten in Richtung einer Friedenslösung in Syrien, die jüngsten Kontakte zwischen Washington und Moskau sind ein weiteres Signal in diese Richtung. Zweitens kommt man in der EU nun auch zur Erkenntnis, dass die Hilfen für die Nachbarländer Syriens und auch des Irak erhöht werden müssen. Dazu gab es ja am Donnerstag konkrete Vorschläge von EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn, der mindestens 500 Millionen Euro für die Türkei, in der rund zwei Millionen Flüchtlinge Schutz vor den Kriegswirren in Syrien gefunden haben, bereitstellen will. Und zumindest in Berlin und Wien gibt es die Einsicht, dass man die wirtschaftlich und politisch ohnehin fragilen Westbalkan-Staaten keinesfalls mit dem Flüchtlingsproblem alleine lassen darf. An dieser Einsicht mangelt es in Budapest, die Reaktion auf den Flüchtlingsansturm war die Errichtung der bereits erwähnten Zäune. Dass dies die Beziehungen Ungarns zu seinen Nachbarländern Serbien und Kroatien nicht unbedingt verbessern wird, davon darf getrost ausgegangen werden. Allerdings schreckt dieser Gedanke den ungarischen Premierminister Viktor Orbán nicht: Er hat längst hingenommen, dass Ungarn nur zur Ukraine halbwegs gute Beziehungen unterhält. Alle anderen Nachbarn hat er längst mit seiner Groß-Ungarn-Nostalgie verärgert.

Ost-West-Mentalblockade

Doch wie findet Europa den Weg zurück zum gemeinsamen Handeln? Zuerst einmal wird man sich mit Geduld wappnen müssen. Denn nach wie vor gibt es in den meisten westeuropäischen Ländern eine Mentalblockade gegenüber Mittel-Ost-Europa.

Und in Osteuropa überwiegt ein utilitaristischer Blick auf die Europäische Union. Von Tallinn bis Sofia, von Bukarest bis Prag wird eine kalte Kosten-Nutzen-Rechnung aufgestellt. Die Namen der Gründerväter der Union - Jean Monnet, Walter Hallstein oder Alcide De Gasperi - kennen in Mittel-Ost-Europa nicht einmal Eingeweihte. Der Gründungsmythos: Nie wieder Krieg zwischen Deutschland und Frankreich in Europa - berührte im Osten niemanden. Schließlich war man damals im Comecon vereint, die Länder der Europäischen Gemeinschaft waren der Feind. Genau deshalb ist die Erinnerung an das Bild vom Zerschneiden des Zauns zwischen Ungarn und Österreich so lehrreich. Damals wie heute gilt für Europa: Gute Zäune auf unserem Kontinent machen schlechte Nachbarn.