Enttäuschung über das Leben nach der Revolution

"Die Sache ist relativ einfach", klärt eine freundliche Frau auf, die Mariana heißt. "Nicht wir haben diese Waren gekauft. Ein Mann hat sie gekauft. Und der will natürlich keinen übermäßigen Zoll zahlen. Also lässt er viele "Einkäufer" rufen, die die Sachen über die Grenze bringen. Dafür bekommen wir immerhin ein paar Grivna, um unsere kärgliche Pension oder unser Einkommen aufzubessern. Und die beträgt derzeit nur etwa 40 Euro im Monat." Und tatsächlich: Bald gehen Frauen durch den Zug, die die Gelder auszahlen, und es hebt ein lautstarkes Hauen und Stechen um die paar ukrainischen Grivna an, die das Weiterleben irgendwie erleichtern.

"He, das ist meine Rolle!", brüllt eine Mittvierzigerin. Die Frau, die durchgeht, fragt: "Wem schulde ich noch was? Aljona?" - "Nein, mir!", wird sie unterbrochen. Bei der ersten Station nach der Grenze wird alles hektisch, die Waren werden ausgeladen, die Stoffrollen und -hunde verschwinden, dafür steigen noch mehr Menschen ein. Abgekämpft sind auch sie. "Nach der Revolution auf dem Maidan haben wir gehofft, jetzt wird es vielleicht besser. Aber nein, es ist alles nur zweimal schlimmer geworden", sagt Mariana. Das Leben im ukrainischen Polesse-Gebiet ist ein ständiger Überlebenskampf.

Das ist es auch für Oleh. Der etwa 60-Jährige sitzt im Bahnhof in Zdolbuniv bei Rivne. Er tut im Grunde nichts. Er redet mit Menschen. Und er träumt von noch einer Revolution in der Ukraine, von einem neuen Maidan. Ganz wie der Taxifahrer Serhij.

Ob der ukrainische Patriotismus immer noch so groß sei wie einst, jetzt, nach über einem Jahr Krieg? "Der Patriotismus ist sehr, sehr groß in der Ukraine", meint der junge Mann, während er sein Auto durch die Nacht lenkt. Auch er ist für einen neuen Maidan. "Derzeit leidet vor allem das einfache Volk", sagt er. "Die Leute sterben, und für was? Es hat sich doch nichts zum Positiven verändert", sagt Serhij. Es bräuchte eine Revolution, die endlich die Ukrainer an die Macht brächte. Dieser Ansicht ist auch Oleh, der einen Zeitungsartikel vorzeigt, der Präsident Petro Poroschenko als von Moskau gekauft beschreibt. Die Schuldigen an der ukrainischen Misere hat Oleh schon gefunden: "Wir werden doch von Fremden beherrscht", orakelt er. "Von Juden." Mit dem Oligarchen-Unwesen müsse Schluss gemacht werden. Die Sehnsucht nach der harten Hand, die durchgreift, ist groß.

Als Vorbild für diese harte Hand wird von vielen Ukrainern ausgerechnet Lukaschenko gesehen. Sowohl bei den prorussischen Rebellen in der Ostukraine als auch bei den ukrainischen Freiwilligenverbänden ist der weißrussische Präsident hoch angesehen. Dass er die Opposition unterdrückt, dass es in Belarus keine freien Wahlen gibt, wird ihm eher angerechnet als vorgehalten. Sie sehen in ihm den starken Mann, der die Oligarchen bändigt und dem Volk zu seinem Recht verhilft. Angesichts des Ukraine-Kriegs sind auch in Weißrussland selbst Lukaschenkos Aktien gestiegen. "Wir haben keinen Krieg hier. Wir haben Brot, wir haben Milch. Wir leben. Ein bisschen arm, aber wir leben", meint ein weißrussischer Taxifahrer.