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Wieder hängt alles an Deutschland

Von Siobhán Geets

Politik

Ohne die Türkei ist die Flüchtlingskrise nicht lösbar. Die EU hat Ankara nichts zu bieten, es liegt wieder einmal an Merkel.


Brüssel. Die Vorschläge lagen bereits vor dem Treffen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit EU-Spitzenpolitikern am Montag in Brüssel auf dem Tisch: Wie die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" berichtete, will die EU Aufnahmelager für bis zu zwei Millionen Flüchtlinge in der Türkei mitfinanzieren, im Gegenzug soll Ankara für eine bessere Sicherung seiner Grenzen sorgen. Die Türkei fordert indes, dass die EU Visa-Liberalisierungen schneller umsetzt.

"Die Hunderttausenden, die über die Türkei nach Europa kommen, müssen gestoppt werden", sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Erdogan. "Wir können das nicht alleine, wir brauchen die Türkei." Erdogan betonte hingegen, dass er seine "Politik der offenen Türen" beigehalten werde und stellte klar, dass die kurdische PKK und die syrisch-kurdische PYD genauso bekämpft werden müssten "wie jede andere Terrororganisation". Der Kampf dieser Gruppen gegen den Islamischen Staat verschaffe ihnen keine Legitimität.

200 Millionen Euro für Türkei

Die Türkei ist eines der wichtigsten Transitländer auf dem Weg nach Europa: Kein Land hat mehr Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, mehr als zwei Millionen sind es mittlerweile. Von der Türkei aus gelangten heuer 390.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Griechenland. Dabei ertranken rund 250 Menschen, darunter jener syrische Bub, dessen Bild Anfang September um die Welt ging.

Die meisten Asylsuchenden wollen nach wie vor nach Deutschland, rund 1000 Menschen reisen täglich ein. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat durch ihre Willkommenspolitik in den vergangenen Wochen gezeigt, dass sie bereit ist, einen großen Teil der Last zu tragen, doch langsam geht den Deutschen der Atem aus. Flüchtlinge sollen weiterhin aufgenommen werden, aber die Einreise muss kontrolliert geschehen und vor allem gedrosselt werden, heißt es aus Berlin. "Da kann die Türkei helfen", sagt Gerald Knaus von der auf Migrationsfragen spezialisierten Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" (Esi), "denn Deutschland ist ein wichtiger Verbündeter". Die Türkei sei momentan umgeben von Krieg: der Bürgerkrieg in Syrien und im Irak, der Konflikt in der Ukraine. "Es ist die gefährlichste Situation für die Türkei seit dem Ende des Kalten Krieges", analysiert Knaus.

Laut Finanzminister Wolfgang Schäuble arbeite auch die Europäische Kommission "mit Hochdruck" daran, die Flüchtlinge vor den Toren Europas aufzufangen: "Die EU wird das jetzt ganz schnell machen, auch und vor allem mit der Türkei."

Die Botschaft ist angekommen: Ohne eine Zusammenarbeit mit Ankara ist das Problem in der Ägäis nicht losbar. Das UNHCR hat seine Prognose nach oben korrigiert und rechnet nun mit 700.000 Menschen, die heuer in der EU ankommen. Im kommenden Jahr können es noch mehr werden - je nachdem, wie sich die Lage im Bürgerkriegsland Syrien entwickelt.

Die EU will jedenfalls verhindern, dass weiterhin unbegrenzt Flüchtlinge kommen. Mit einer Verbesserung der Lage in der Türkei sei das aber nicht getan, sagt Knaus. Den Vorschlag, noch mehr Flüchtlingslager in der Türkei zu errichten, bezeichnet er als "vollkommen absurd": "Das wird nicht passieren." In Ankara werde die Idee als Beleidigung wahrgenommen. Die Türkei erfülle bei der Unterbringung von Flüchtlingen zwar hohe Standards, doch die Menschen seien trotzdem unzufrieden - und machen sich zu Tausenden auf den Weg nach Europa. "Das liegt daran, dass sie keine Perspektive haben. Viel wichtiger als eine Verbesserung der Flüchtlingslager wäre eine Öffnung des türkischen Arbeitsmarktes", sagt Knaus. Die Idee beschäftige zwar die Regierung, bei der türkischen Bevölkerung sei sie jedoch nicht beliebt. "Würde Deutschland vorschlagen, 500.000 Flüchtlinge aus der Türkei zu übernehmen, dann würde es den Türken sehr viel leichter fallen, ihren Arbeitsmarkt zu öffnen", ist Knaus überzeugt.

Auch, wenn sie nicht dürfen: Flüchtlinge, darunter auch Kinder, arbeiten in der Türkei unter miserablen Bedingungen. Das drückt die Löhne, wo viele Asylsuchende sind, steigen zudem die Mietpreise. Kann es sich Erdogan unter diesen Umständen überhaupt leisten, die EU-Forderungen zu erfüllen?

"Syrische Flüchtlinge machen in manchen Gegenden ein Drittel bis zur Hälfte der Bevölkerung aus", erklärt Knaus. Ohne glaubwürdige Unterstützung von außen werde es für die Türkei immer schwerer, ihre Politik durchzusetzen. Bei der von der EU-Kommission versprochenen Milliarde Euro für die Türkei handle es sich zudem nicht um neues Geld: "Diese Milliarde wird ja nur umgewidmet. Es sind vielleicht 200 Millionen extra. Wenn man so mit der Türkei verhandelt, dann braucht man sich nicht wundern, wenn dabei nichts herauskommt."

Hoffnung Deutschland

Will die EU die Türkei dazu bringen, die Flüchtlinge, die über die Ägäis Richtung EU reisen wollen, zurückzuholen, so sieht Knaus nur eine Hoffnung: Deutschland. Einzig Berlin habe durch seine großzügige Flüchtlingspolitik die moralische Glaubwürdigkeit, EU-Forderungen durchzusetzen. "Die Europäische Kommission", sagt Knaus, "hat der Türkei nichts anzubieten." Ist Deutschland bereit, innerhalb eines Jahres eine halbe Million Flüchtlinge aus der Türkei aufzunehmen, dann könnte sich Ankara im Gegenzug dazu verpflichten, alle Asylsuchende in der Ägäis aufzugreifen und zurückzubringen.

"Wenn Syrer in der Türkei eine realistische Chance auf Asyl in Deutschland haben und gleichzeitig in der Türkei arbeiten können", so Knaus, "dann würde das Schlepperwesen deutlich reduziert." Auch bei den von der Türkei geforderten Visa-Liberalisierungen spiele Deutschland eine wichtige Rolle. Erst, wenn Berlin signalisiert, sich in der EU dafür einzusetzen, werde das Versprechen glaubwürdig. "Wenn die Kommission das sagt, ist das Misstrauen in Ankara groß."