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Hüter der "wahren" Menschenrechte

Von Veronika Eschbacher

Politik

Die Menschenrechtslage in Russland verschlechtert sich, sagt der Experte Dmitrij Dubrowskij.


Vor wenigen Tagen wartete der russische Präsident Wladimir Putin mit einer Überraschung auf. Er gab die Stiftung eines Menschenrechtspreises ab 2016 bekannt und erinnerte an die Opfer politischer Repressionen zu Sowjetzeiten. Ljudmila Alexejewa, Vorsitzende der Moskauer Helsinki-Gruppe, hielt dem Präsidenten dennoch vor, wie Nichtregierungsorganisationen (NGOs) derzeit in Russland gegängelt würden. Wer Spenden aus dem Ausland erhält, wird etwa als "ausländischer Agent" registriert und behandelt. Gleichzeitig stellte die Gruppe in ihrem kürzlich präsentierten Jahresbericht für 2014 fest, dass sich die Menschenrechtslage im Land krass verschlechtert habe. Die "Wiener Zeitung" sprach mit dem russischen Menschenrechtsexperten Dmitrij Dubrowskij über Arbeitsbedingungen in Russland und Moskaus Umgang mit Menschenrechten.

"Wiener Zeitung": In Russland kann man heute mit dem Hochhalten eines Plakates eine sehr harte Reaktion des Staates hervorrufen. Woher rührt diese Angst des Staates vor Meinungsfreiheit?Dmitrij Dubrowskij: Die rührt wohl daher, dass das heutige politische Regime einfach alle möglichen Exzesse voraussehen will. Es nimmt an, dass die größte Gefahrenquelle heute das Wort ist. Mittlerweile gibt es eine Anzahl verschiedenster Straftatbestände, mit denen man rein für Worte bestraft wird. Viele dieser Gesetzestexte sind hochgradig ausgeklügelt. Nehmen wir das Beispiel von Darja Poljudowa, einer Aktivistin aus Krasnodar. Auf ihrem Schild stand geschrieben: "Kein Krieg in der Ukraine, sondern Revolution in Russland". Der Gesetzesausleger liest: Aha, ein Aufruf zur Revolution in Russland. Er schlägt dann ein Wörterbuch aus dem 19. Jahrhundert auf, in der Revolution als eine Veränderung durch Gewalt definiert wird - und urteilt dann, dies ist ein Aufruf zur Gewalt. Von modernen Politologen wird Revolution als fundamentale Änderung der politischen Strukturen definiert, also ohne Gewalterfordernis. Viele Leute, denen heute Haft droht oder die bereits im Gefängnis sitzen, leiden unter diesem sehr breit gefassten Verständnis von Extremismus. Freilich spielen die Ereignisse in der Ukraine eine große Rolle in der Politik und im Umgang des Staates mit der Meinungsfreiheit. Insgesamt werden heute gesellschaftliche Gefahren in der russischen Gesetzgebung absolut inadäquat eingeschätzt.

Russland versucht sich, vor allem seine Werte betreffend, immer mehr vom Westen abzugrenzen. Wie sehr werden Menschenrechte als etwas Europäisch-Westliches gesehen, das es abzulehnen gilt?

Auf der einen Seite wurden die Menschenrechte - und das ist eine Niederlage der russischen Menschenrechtler - in Russland nicht zum Trägermedium sozialer Gerechtigkeit, die von den russischen Bürgern begrüßt wird. Sie blieben etwas Elitäres. Auf Politebene wiederum sprechen hohe Beamte und Regierungsmitglieder, etwa Außenminister Sergej Lawrow oder Vertreter der Orthodoxie, immer wieder über Menschenrechte. Auch hier können wir die Weiterführung der Idee des russischen Partikularismus beobachten. Das heißt, die Menschenrechte nehmen in Russland eine spezielle Form an. Von dem ganzen Konvolut werden Rechte für Homosexuelle und Transgender-Personen (LGBT) abgezogen, genauso Euthanasie. Abzüge gibt es auch bei der Redefreiheit. Dafür gibt es besondere Sorge um religiöse Gefühle. Wobei etwa der Schutz für religiöse Minderheiten nur den "traditionellen" zugutekommt, also offizielle Buddhisten, offiziellen Muslimen und dergleichen.

Dieses "Herauspicken" wird aber in Russland selbst nicht als nachteilig interpretiert, nicht wahr?

In der Tat. Denn Lawrow und andere Politiker treten gerne mit der Aussage auf, sie würden die Verfechter der "wahren" Menschenrechte sein. Die Logik erinnert ein wenig an das Konzept rund um Moskau als drittes Rom. Auch bei Menschenrechten erhalte Moskau die wahren Ursprünge. Ganz Europa ist mit dem ganzen "Unfug" rund um Rechte für LGBT von den wahren Menschenrechten abgekommen. Russland dagegen ist der Hüter der wahren Gestalt der Menschenrechte, die in Europa starb.

Es gab eine Reihe an Verschärfungen für die Arbeit von NGOs. Wie können Menschenrechtsgruppen in diesem Umfeld arbeiten?

Heute arbeiten nicht wenige mittlerweile einfach ohne offizielle Registrierung. Viele formieren sich als "Initiativgruppen". Aber ich befürchte, dass es bald ein Gesetz geben wird, das auch auf solche Initiativgruppen abzielt.

Aber viele russische NGOs übernehmen auch Aufgaben, die der Staat nicht zuwege bringt, etwa im Bereich Sozialarbeit.

Das interessiert ihn wenig. Dem Staat geht es nicht um Effizienz, sondern alleine um Machtverteilung. Es herrscht ein nicht enden wollender Wunsch, alles zu kontrollieren.

Was kann der Menschenrechtsrat, der den russischen Präsidenten berät, heute ausrichten?

Die dort tätigen Menschenrechtler wollen einfach jede Gelegenheit, auf Menschenrechtsverletzungen hinzuweisen, nutzen. Ich persönlich sehe aber keine Resultate ihrer Tätigkeit.

Welche Aufmerksamkeit wird Menschenrechten in Medien geschenkt?

Leider führen politische Medien bewusste Kampagnen gegen Menschenrechtler - in bester Sowjet-Manier. Auf verschiedensten TV-Kanälen wird dargestellt, welcher Menschenrechtler gegen wen arbeitet und wer dies finanziert. Generell werden Menschen- und Bürgerrechtler als Personen dargestellt, die gegen Russland arbeiten.

Im Juli entschied das russische Verfassungsgericht, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) nicht "nach dem Buchstaben" zu befolgen seien, wenn sie im Widerspruch zur russischen Verfassung stünden. Der Gerichtshof ist Moskau schon lange ein Dorn im Auge. Von 1600 angenommenen Klagen russischer Bürger wurden 1500 zugunsten der Kläger entschieden. Der Europarat warnte Moskau davor, die Urteile nicht umzusetzen. Befürchten Sie, dass Russland sich künftig der Rechtssprechung nicht mehr unterwirft?

Das ist durchaus möglich. Davon zeugt eben genau diese Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts. Es gibt auch die Idee, dass als zusätzliche Instanz, bevor sich russische Bürger an den EGMR wenden können, das Verfassungsgericht eingezogen wird. Das soll die Zahl der Verfahren, die an den EGMR gelangen, minimieren.

Dmitrij Dubrowskij ist Experte für Menschenrechtsfragen in Russland und unterrichtet unter anderem an der Universität St. Petersburg . Dubrowskij war auf Einladung des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.