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Tories stürmen Richtung Brexit

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik
Noch hält sich Londonskonservativer Bürgermeister Boris Johnson (Mitte) impolitischen Spiel zurück,der EU-Skeptiker gilt aber als heißer Nachfolge-Kandidatfür Premier Cameron.reuters/Nicholls

Das nahende EU-Referendum dominiert den Parteitag der Konservativen in Großbritannien. Die Gegner Brüssels formieren sich.


London. Die Uhr tickt. Dies ist vielleicht der letzte Tory-Parteitag vor einem historischen Volksentscheid, der zum Austritt Großbritanniens aus der EU führen könnte. Noch hat Premierminister David Cameron zwar nicht angegeben, wann er sein Referendum zur weiteren EU-Mitgliedschaft abhalten will. Verpflichtet hat er sich nur dazu, die Sache "vor Ende 2017" hinter sich bringen. Wettbüros und politische Beobachter tippen aber schon aufs kommende Jahr, und möglicherweise auf September. Falls das korrekt wäre, bliebe nicht mehr viel Zeit für eine Kursvorgabe Camerons aufs Referendum hin.

Entsprechende Nervosität kennzeichnet den diesjährigen Parteitag der Tories. Zumal die Zeichen für einen Stimmungsumschwung "gegen Europa" sich mehren und die Anti-EU-Truppen auch im konservativen Lager sich bereits formieren. Und zumal Zweifel daran wachsen, dass der Regierungschef am Ende noch das Steuer herumreißen könnte, wenn er das Schiff zu lange auf unbestimmtem Kurs treiben lasse. Mit "schlafwandlerischer" Zielsicherheit, urteilt die nationalkonservative Londoner "Times", halte Cameron auf den EU-Exit zu. Der Premier selbst dementiert, dass dies das Ziel seiner Reise sein soll. Es bestehe "gar kein Zweifel" daran, dass Großbritannien von seiner EU-Mitgliedschaft profitiere, hat er am Rande des Parteitags gesagt.

Zugleich hat er freilich eingeräumt, er könne "nicht garantieren", dass er von der EU wirklich die britischen Sonderrechte und die "grundlegende Reform der EU" erhalten werde, die für ihn Voraussetzung für ein Ja zu weiterer EU-Zugehörigkeit sind. Bei aller "begreiflichen Frustration" in der Partei könne er sich erst nach Abschluss der Verhandlungen für ein Ja oder ein Nein entscheiden, erklärt Cameron den Seinen. Ein spätes Ja aber, fürchten Pro-Europäer im Tory-Lager, wäre womöglich zu spät.

Denn: Neueste Umfragen deuten schon jetzt auf eine stetig wachsende Anti-EU-Stimmung im Lande hin. Erstmals haben gleich mehrere repräsentative Meinungsumfragen ein knappes Nein zum Verbleib in der EU vorausgesagt. Vor allem die Angst vor Massen-Zuwanderung und Flüchtlingsströmen verstärkt den Wunsch nach Absetzung von Europa, nach dem Hochziehen aller Zugbrücken im Inselbereich.

Mehr EU-Gegner als Anhänger

In der Konservativen Partei selbst ist die Neigung zum Austritt noch ausgeprägter als in der Gesamtbevölkerung. Und in der Unterhaus-Fraktion der Tories gibt es mehr entschiedene EU-Gegner als leidenschaftliche Fürsprecher der EU. Im Kabinett flirten laut "Sunday Times" bereits acht Minister mit einem "No" zu Europa. Vor wenigen Tagen erst wurde der langjährige frühere Schatzkanzler Margaret Thatchers, Nigel Lawson, zur Galionsfigur der konservativen Neinsager bestellt. Er wird für einen Austritt aus der EU werben. Während die Pro-Europäer zögern, beginnen die zum Austritt Entschlossenen "Nägel mit Köpfen" zu machen. Leute wie Lord Lawson oder Camerons früherer Verteidigungsminister Liam Fox, ein anderer Parteirechter, sehen in der Tat keine Chance mehr für Cameron, mit der EU einen Deal zu schließen, der Unterstützung verdiente. Weder zu substanziellen Kompromissen noch zu ernst zu nehmenden Vertragsänderungen vor dem Referendum, prophezeien sie, seien die EU-Partner bereit. Mit leeren Händen werde Cameron vor die Wählerschaft treten. Schon jetzt zeichne sich für ihn ein Fiasko ab.

Das hat auch schon der andere Nigel, Nigel Farage von der Unabhängigkeitspartei Ukip, vor kurzem verkündet. Camerons "Neuverhandlungen", sagte Farage, brächten ja nichts: "Weder fordert er Kontrolle über offene Grenzen, noch verlangt er Eigensouveränität über britische Belange zurück." Angesichts der Ungewissheit in der Regierungspartei finden es einige Top-Tories schwer, sich auf klare Positionen festzulegen. Innenministerin Theresa May zum Beispiel setzte sich am Dienstag mit einer martialischen Anti-Flüchtlings-Rede in Szene - und scharf vom Rest Europas ab.

Warnung vor Klein-England

Der populäre und bekanntermaßen euroskeptische Londoner Bürgermeister Boris Johnson, von dem es heißt, er könne sich noch an die Spitze der Austritts-Bewegung setzen, hielt sich erst einmal vorsichtig zurück. Viele Zauderer unter den Konservativen schauen auf Johnson. Er, Ministerin May und Finanzchef George Osborne gelten als aussichtsreichste Kandidaten für die Nachfolge Camerons. Osborne muss in der EU-Frage mit Cameron ziehen. Johnson will sehen, woher der Wind im nächsten Jahr weht.

Derweil warnen die Verfechter britischer EU-Mitgliedschaft eindringlich vor einer "nationalen Katastrophe". Sollte Großbritannien wirklich aus der EU driften, glaubt Nick Clegg, vormals Vize-Premier und Chef der Liberaldemokraten, dann würde die Schottische Nationalpartei, die SNP, mit Sicherheit ein erneutes Unabhängigkeits-Referendum fordern, um Schottland von England loszueisen. "Wollen wir denn, dass Großbritannien sich in ein Kleines England verwandelt, das dann ganz ohne Freunde irgendwo im Atlantik herumdümpelt?" fragt Clegg jetzt seine früheren Koalitionspartner. Bei den Konservativen wartet nun alles auf David Camerons vielbeschworene EU-Verhandlungen. Und auf das, was Cameron vom Kontinent mit nach Hause bringt.