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Ein Köder für den Autokraten

Von Gerhard Lechner aus Minsk

Politik

Die EU bereitet vor den Präsidentenwahlen in Belarus am Sonntag die Aussetzung der Sanktionen gegen Lukaschenko vor. | An den Wahlen selbst hat sich allerdings nichts geändert. Das weißrussische System ist so undemokratisch wie immer.


Minsk. Leise tritt Tatzjana Karatkewitsch ans Pult. Leise und zögernd an diesem Donnerstagabend in einem Versammlungshaus in Minsk. Vor fünf Jahren waren es noch neun Kandidaten der demokratischen Opposition, die gegen den diktatorisch regierenden Staatschef Alexander Lukaschenko in den Ring gestiegen sind, in ein hoffnungsloses Rennen um die weißrussische Präsidentschaft. Es ist ihnen nicht gut bekommen: Viele wurden nach den Demonstrationen gegen vermutete Wahlfälschungen interniert, der letzte Gefangene, Mikolaj Statkewitsch, wurde erst diesen August freigelassen.

Jetzt tritt bei den Präsidentenwahlen am Sonntag nur noch eine demokratisch orientierte Kandidatin an: Karatkewitsch, alle anderen, etwa der Lukaschenko-Klon Sergej Hajdukewitsch, gelten als vom Regime handverlesene Zählkandidaten. Karatkewitsch blickt in den Saal. Er ist nur spärlich gefüllt. Vor fünf Jahren, zu den Veranstaltungen von Oppositionskandidat Wladimir Neklajew, kamen noch deutlich mehr Menschen. Karatkewitsch wirkte damals in dessen Wahlkampfteam mit. Neklajew, der weißrussische Poet, bot 2010 eine mitreißende Polit-Show, tänzelte fest über die Bühne. Der Funken zwischen dem Charmeur und dem Publikum flog rasch über. Seinen Aufruf zu Protesten am Wahlabend bezahlte Neklajew mit monatelangem Gefängnis im berüchtigten KGB-Gefängnis "Amerikanka" in Minsk. Heute tritt er - gemeinsam mit Statkewitsch - für einen totalen Wahlboykott ein. Ein Antreten bei diesen ohnehin gefälschten Wahlen, argumentieren diese Oppositionellen, legitimiere nur das Regime. Lukaschenko könne sagen: Sehr her, die Wahlen waren fair, die Opposition habe antreten können. Dies gelte es zu verhinden.

Karatkewitsch tritt trotzdem an, was ihr auch Anfeindungen seitens der Boykott-Anhänger eingetragen hat. In ihrer Kampagne tritt sie - um Vorwürfen, sie strebe eine Maidan-Revolution wie in der Ukraine an, Wind aus den Segeln zu nehmen - mit dem Slogan "für friedlichen Wandel" an. Dass sie in ihren Veranstaltungen weniger die Machtfrage stellt als auf die wirtschaftlichen Probleme des Landes verweist, lässt manch einen in Minsk gar vermuten, Karatkewitsch sei gar keine "echte" Oppositionelle. "Das macht alles der KGB. Alles ist vom KGB organisiert", sagte ein Minsker der "Wiener Zeitung". Der weißrussische Geheimdienst trägt immer noch den Namen des Geheimdienstes der alten Sowjetunion.

Marx, Lenin, Dzierzynski

Überhaupt erinnert in Weißrussland vieles an die verblichene Sowjetzeit. Ganz besonders in Minsk: Die breiten Prospekte und Prunkstraßen im Stalin-Stil heißen noch heute Lenin-Straße, Karl-
Marx-Straße und, nach dem Gründer des brutalen Sowjet-Geheimdiensts "Tscheka", Feliks Dzierzynski-Straße. Das Sowjetsystem ist in Weißrussland nie richtig zusammengebrochen. Der Raubtier-Kapitalismus, der in Russland und der Ukraine entstand, wirkte zu abschreckend. Erste Ansätze zu Privatisierungen und marktwirtschaftlichen Reformen Anfang der 1990er Jahre wurden vom Polit-Aufsteiger Lukaschenko, der die damals noch demokratischen Präsidentenwahlen in Belarus 1994 mit 80 Prozent für sich entschieden hat, sofort unterbunden. 1995 ließ er sich mittels Referendum exklusive Vollmachten sichern. Seither regiert er das Land per Verordnung über seine Präsidialadministration. Das weißrussische Zweikammern-Parlament hat politisch nur eine Statistenrolle inne. Es finden sich in ihm auch keine Vertreter der regimekritischen Opposition. Ungemach droht Lukaschenko höchstens aus seiner eigenen Funktionselite: "Russische Geheimdienste besitzen erheblichen Einfluss in Belarus", berichtet der Minsker Politologe Arseni Sivitski der "Wiener Zeitung". Diesen könnten sie auch nutzen, um Lukaschenko, wenn er nicht nach der Pfeife Moskaus tanzt, zu stürzen.

Tatsächlich sendet der unter Druck geratene Autokrat in letzter Zeit deutliche Signale Richtung Westen aus, um sich von russischem Druck freizuspielen. In der Ukraine-Krise folgte er nicht Moskaus Kurs, sondern trat als Vermittler zwischen EU und Kreml auf - was im eigenen Land, in dem die meisten Menschen russische Medien konsumieren und den russischen Standpunkt teilen, übrigens nicht nur gut ankam. Und im August ließ er Oppositionelle wie Statkewitsch frei.

Am Freitag erhielt der weißrussische Präsident seinen Lohn für diese Politik: Die EU, so sickerte in Brüssel durch, bereitet die Aussetzung der Sanktionen gegen Lukaschenko vor. Auch die Einreise- und Vermögenssperren gegen 150 Vertraute und Anhänger des Präsidenten sollen ausgesetzt werden. Das Vorhaben sei "eine Geste" wegen der Freilassung der politischen Gefangenen im August, sagte ein ranghoher EU-Diplomat.

Ob die Freilassung aber wirklich der Grund für die Aussetzung ist? Vieles spricht dafür, dass man Lukaschenko eher geopolitische Rückendeckung gegenüber Moskau geben will. Erst am Dienstag hat der Autokrat dem Ansinnen des Kreml, in Belarus eine Luftwaffenbasis zu errichten, eine Absage erteilt. Gut möglich, dass die EU dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Belarus Paroli bieten will.

Dafür spricht auch, dass sich in Weißrusslands System nicht das Geringste geändert hat. Lukaschenko hat vor Wahlen bereits öfter politische Gefangene freigelassen. Auswirkungen auf die prekäre Menschenrechtslage hatte das keine. Das scheint dieses Mal nicht anders zu sein: Erst kürzlich landeten vier junge Männer wegen harmloser Graffitis vor Gericht. Anzeichen einer Liberalisierung gibt es nicht.

Wahl ohne Plakat-Wahlkampf

Auch nicht bei den aktuellen Wahlen. Sie sind organisiert wie immer: Soldaten, Angestellte und Studenten gehen schon vor dem Wahlsonntag kollektiv zur Wahl, eine effektive Kontrolle der Stimmzettel findet nicht statt. Und auch kein echter Wahlkampf. Nirgendwo in Minsk findet sich ein großflächiges Wahlplakat, das für einen der Kandidaten wirbt. Nicht einmal Präsident Lukaschenko, dem im nationalen Fernsehen und in den staatlichen Printmedien ausgiebig gehuldigt wird, ließ sich ablichten. Daran, dass Wahlen sind, werden die Minsker dennoch ausgiebigst erinnert: Auf Bussen, auf Litfaßsäulen, auf Häusern, in Geschäften - überall prangt ein Plakat mit dem immer selben Spruch: "11. Oktober 2015 - Präsidentenwahlen in der Republik Belarus". Das Plakat ziert in der Vorwahlzeit auch das kleinste Dorf - ganz wie bei Wahlen in der Sowjetzeit.

Die Sowjet-Schule, die Suche nach dem "Volksfeind" und Verräter, der vom Ausland bezahlt wird, bekommt auch Karatkewitsch zu spüren. Schon bevor sie ans Pult tritt, wird ihr Vorredner unterbrochen: "Was ist jetzt mit der Kandidatin!?" - "Wird jetzt noch gesungen? Getanzt? Oder geht es endlich los?!" Gemurmel macht sich breit im Saal. "Das sind die üblichen eingeschleusten Provokateure Lukaschenkos", sagt einer aus dem Wahlkampfteam Karatkewitschs. "In der Provinz lassen sie uns halbwegs in Ruhe. In Minsk ist es aber besonders schlimm." Karatkewitsch geht nach vorne. Sie probiert es ruhig, sachlich. Sie bietet keine Show wie Neklajew, spricht die sozialen Probleme an. "Du kannst das doch nie im Leben lösen!", wird sie unterbrochen.