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"Der Staat will Krieg"

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Der schwerste Anschlag in der Geschichte der Türkei verschärft die ohnehin schon tiefe politische Krise im Land.


Istanbul. Deutlicher konnte das Signal nicht sein, das die Selbstmordattentäter aussandten, als sie ausgerechnet bei einer Friedensdemonstration kurz nach 10 Uhr vormittags zwei Bomben in der türkischen Hauptstadt Ankara zündeten, durch die mindestens 95 Menschen starben und 246 teils schwer verletzt wurden. Frieden wollten die Mörder nicht, aber was wollten sie dann? Auch am Tag nach dem schlimmsten Terroranschlag der türkischen Geschichte gab es weder ein Bekenntnis zu dem Anschlag noch eine heiße Spur zu den mutmaßlichen Tätern oder ihren Motiven.

Zeitungsüberschriften spiegelten am Sonntag die Mischung aus Trauer und Wut, die nach den verheerenden Terrorattacken in der Türkei herrschte. "Wir trauern um den Frieden", titelte die oppositionelle linke Zeitung "Cumhuriyet" mit Bezug auf die dreitägige Staatstrauer. "Das Ziel ist es, die Nation zu spalten", schrieb dagegen das regierungsnahe Boulevardblatt "Star". Die gefährdete Einheit des Landes sprach auch der Staatspräsident selbst an. "Ich verurteile diesen abscheulichen Angriff zutiefst, dessen Ziel die Einheit, Solidarität und der Frieden unseres Landes gewesen ist", erklärte Recep Tayyip Erdogan in einer ersten Stellungnahme. Er versprach eine umfassende Aufklärung des Attentats - an die viele Oppositionelle nicht recht glauben mögen. "Wir wollen Frieden, aber der Staat will Krieg", sagte der Istanbuler Journalist Yüce Yöney, der bei dem Anschlag einen engen Freund verlor, gegenüber der "Wiener Zeitung".

Es lodert an allen Ecken

In Ankara versammelten sich am Sonntag tausende Menschen nahe dem Tatort am Hauptbahnhof und riefen Parolen gegen die Regierung und den Präsidenten wie "Mörder Erdogan". Zuvor hatten Bereitschaftspolizisten die beiden Vorsitzenden der prokurdischen Linkspartei HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, mit Gewalt daran gehindert, am Anschlagsort Kränze niederzulegen.

Laut einer Erklärung der HDP, die die Friedensdemonstration am Samstag mitorganisiert hatte, wurden bei den Explosionen sogar 128 Menschen getötet und rund 500 Personen verletzt, deutlich mehr als amtlich gemeldet.

Die Opfer hatten für mehr Demokratie und gegen Gewalt zwischen Türken und Kurden demonstrieren wollen. Der Anschlag trifft die Türkei in einer dramatischen politischen Lage drei Wochen vor der Wiederholung der Parlamentswahlen vom Juni. Dabei hatte die seit 13 Jahren regierende islamisch-konservative AKP Erdogans ihre absolute Mehrheit im Parlament verloren, weil es der HDP erstmals gelungen war, die Zehnprozenthürde zu überspringen. Das Land ist politisch tief gespalten, in Südostanatolien herrscht wieder Krieg zwischen der Armee und der Kurdenguerilla PKK, im Nachbarland Syrien tobt ein blutiger Konflikt.

Ministerpräsident Ahmet Davutoglu zufolge wurde der Anschlag wahrscheinlich von zwei Selbstmordattentätern verübt. Er nannte die "üblichen Verdächtigen" als mögliche Täter: die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS), die PKK und zwei linksextremistische Terrorgruppen. Tatsächlich hatte der IS der Türkei den Krieg erklärt, nachdem sich Ankara im Juli der Anti-IS-Koalition Washingtons anschloss. Die PKK greift den türkischen Staat seit mehr als drei Jahrzehnten an. Doch die HDP-Führung und viele Oppositionelle glauben an eine andere Version. Sie vermuten, dass die zunehmend autoritär agierende Regierungspartei selbst hinter dem Anschlag steckt: Sie wolle damit Chaos verbreiten, um sich den Wählern als Retter in der Not zu präsentieren.

Eine Spur zum IS

Dass die kurdischen PKK-Rebellen eine Demonstration angreifen, die maßgeblich von der kurdischen HDP organisiert wurde, ist in der Tat wenig wahrscheinlich. Es war zudem bekannt, dass die PKK, die zahlreichen Verbindungen zur HDP hat, am Sonntag ihre Angriffe bis zu den Wahlen aussetzen wollte. Zum IS dagegen weist eine mögliche erste Spur. Die regierungsnahe Zeitung "Yeni Safak" will aus Polizeiquellen erfahren haben, dass der Anschlag von einem Bruder jenes Selbstmordattentäters verübt worden sei, der mit einer selbstgemachten Bombe im Juli 33 Friedensaktivisten in der südtürkischen Grenzstadt Suruc tötete. Der Mörder von Suruc hatte nachweislich Verbindungen zum IS. Allerdings haben die Dschihadisten bisher keine Verantwortung dafür übernommen.

Bereits am Samstagabend hatten in Istanbul und anderen Städten des Landes Zehntausende die AKP-Regierung auf Plakaten für das Blutvergießen verantwortlich gemacht. Vor allem die HDP sieht sich als Ziel des Anschlags. "Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk", erklärte ihr Ko-Vorsitzender Selahattin Demirtas und sagte an die Regierung gerichtet: "Ihr seid Mörder. An Euren Händen klebt Blut." Die Führung des Landes habe den Anschlag nicht verhindert.

Ähnliche Vorwürfe waren nach den Anschlägen von Suruc sowie auf eine HDP-Wahlveranstaltung im Juni in der Kurdenmetropole Diyarbakir laut geworden. Beide sind bis heute nicht aufgeklärt. Im Internetdienst Twitter erklärten linke Intellektuelle und Politiker, die Hintermänner der Anschläge spekulierten offensichtlich auf eine Eskalation der Gewalt, um die HDP zu einem Wahlboykott provozieren oder die Wahlen "aus Sicherheitsgründen" ganz absagen, um die gefährdete Herrschaft der AKP und ihres Staatspräsidenten Erdogan zu retten. Denn laut übereinstimmenden Umfragen vor dem Anschlag würde das Wahlergebnis am 1. November wieder ähnlich wie im Juni ausfallen.

"Keine Sicherheitsmängel"

Inzwischen wurde auch aus der Regierungspartei Kritik an den Sicherheitsmaßnahmen der Polizei in Ankara laut. Der AKP-Vizechef Mahmet Ali Sahin sagte, die Polizei hätte die Teilnehmer besser durchsuchen sollen und verlangte eine gründliche Untersuchung der Versäumnisse. Dagegen sagte Innenminister Selami Altinok, dass es keine Sicherheitsmängel gegeben habe. Wie die Nachrichtenagentur Anadolu meldete, wurden bereits am Samstag aus Gründen "der öffentlichen Sicherheit" Bildberichte über den Anschlag inzwischen ebenso untersagt wie Meldungen über die laufenden Ermittlungen - eine übliche Zensurmaßnahme in der Türkei. Üblich ist auch, dass kein verantwortlicher Politiker oder Polizeichef bisher seinen Rücktritt erklärt hat.