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Die verschollene Milliarde

Von Siobhán Geets aus der Republik Moldau

Politik

Pro-europäische und moskautreue Gruppen demonstrieren in der Republik Moldau gegen Korruption.


Chisinau. Fast ein halbes Jahr ist seit dem "Jahrhundertdiebstahl" vergangen, Aufklärung ist keine in Sicht: Die "gestohlene Milliarde" bewegt die Republik Moldau bis heute, in der Hauptstadt Chisinau gehen jedes Wochenende Tausende auf die Straße, um gegen Korruption und Vetternwirtschaft zu demonstrieren. Bis zu 100.000 Menschen waren es im Herbst - eine stolze Zahl für das ärmste Land Europas mit seinen gerade einmal dreieinhalb Millionen Einwohnern.

"Die Korruption ist das Hauptproblem. Den Oligarchen gehört das ganze Land", sagt Vovc Liviu. Gemeinsam mit Inga Grigoriu hat der Architekt Anfang September vor dem Nationalrat die ersten Zelte aufgebaut und EU-Flaggen gehisst. Die Bürgerplattform "Würde und Wahrheit" tritt für eine Aufklärung des Finanzskandals ein und will die Verantwortlichen vor Gericht sehen. Der moldawische Oligarch Vlad Plahotniuc und der ehemalige Premier und Parteichef der Liberaldemokraten Vlad Filat zögen nach wie vor die Fäden der Macht, sagt Liviu. "Es ist ihre Schuld, dass die Milliarde weg ist."

Zwar gibt es seit Juli eine pro-europäische Regierung aus Liberalen und Demokraten, doch hat sie bisher wenig getan, um aufzuklären, wohin das Geld verschwunden ist. Bei der "gestohlenen Milliarde" handelt es sich um rund eine Milliarde US-Dollar (877 Millionen Euro), die innerhalb weniger Tage offenbar durch faule Kredite aus dem moldawischen Banksystem entwendet wurde - das entspricht einem Achtel der Wirtschaftskraft des Landes. Die moldawische Zentralbank sprang mit Notkrediten ein, die Landeswährung Leu ging auf Talfahrt, die Inflation schoss in die Höhe. Mit den steigenden Preisen sank der ohnehin niedrige Lebensstandard der Bevölkerung weiter. Europäische Union, Internationaler Währungsfonds und Weltbank haben ihre Zahlungen bis auf Weiteres eingestellt - sie wollen erst Reformen sehen.

Das korrupte moldawische Banken- und Justizsystem spielt seit vielen Jahren eine Schlüsselrolle bei der Geldwäsche im Land. Auch im aktuellen Fall verschwanden Daten und Beweismittel. "Das Geld kommt meist aus Russland oder der Ukraine und landet in der EU. In der Republik Moldawien wird es nicht nur gewaschen, mitunter verschwindet es auch", sagt Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative ESI. "Die EU hat zugesehen und keine Strategien entwickelt." Im Gegenzug an eine Annäherung an die EU - ein Assoziierungsabkommen besteht seit 2014 - hätte man von der Regierung fordern sollen, europäische Standards zur Verhinderung von Geldwäsche umzusetzen.

Neue Maidan-Bewegung?

"Keine Partei ist hier wirklich pro-europäisch", sagt Liviu, "sie tun nur so, um dann EU-Gelder in die eigenen Taschen zu stecken". Für Liviu ist die Annäherung an die EU die einzige Chance für das Land: "Es ist ein langer Weg, aber der einzig Richtige."

Vor dem Regierungssitz wehende EU-Fahnen, Proteste gegen Korruption und Oligarchie: Die Plattform "Würde und Wahrheit" wird von vielen europäischen Medien als neue Maidan-Bewegung bezeichnet. Inga Grigoriu hört diesen Vergleich nicht gerne. "Das ist kein Maidan", sagt sie mit besorgtem Blick, "es geht uns um den Protest gegen die Korruption, es ist keine Partei beteiligt". Seit Mai demonstrieren die Anhänger der Bürgerplattform für eine Untersuchung des Skandals und Haftstrafen für die Verantwortlichen. "Nichts ist passiert", sagt Liviu genervt, "aber wir werden hierbleiben, bis sich endlich etwas ändert". Die Aussichten stimmen alles andere als optimistisch, denn der Winter steht vor der Tür. Wochen und Monate mit bis zu 30 Grad Minus sind keine Seltenheit in der Republik Moldau. Anfangs hätten 400 Leute in den Zelten übernachtet, jetzt seien es nur mehr 70, sagt Liviu. "Die meisten hier sind zwischen 30 und 60 Jahre alt. Es ist schwer, die Jungen zu motivieren, sie begreifen erst später, nach ihrem Studium, dass es keine Jobs gibt." Liviu weiß, wovon er spricht: Der 26-Jährige hat sein Architekturstudium vor einem Jahr beendet, Arbeit fand er keine.

Liviu und Gregoriu wollen mithelfen, eine neue Partei zu gründen die nichts mit dem alten, korrupten System zu tun hat. Ein halbes Jahr vor den Präsidentschaftswahlen setzen sie sich für ein Referendum ein. Sie wollen durchsetzen, dass der Präsident künftig nicht mehr vom Parlament, sondern vom Volk gewählt wird.

Moskautreue wittern Chance

Das Camp der Bürgerrechtsbewegung ist nicht die einzige Protestaktion in Chisinau, auch moskau-treue Gruppen wittern ihre Chance. Vor dem Parlament haben sich die beiden pro-russischen Oppositionsparteien eingerichtet. EU-Fahnen findet man hier keine, neben der moldawischen Flagge weht Hammer und Sichel. Ein halbes Dutzend junger Menschen hängt am Rande des Camps herum. Auch sie wollen die Machtverhältnisse ändern, haben aber ganz andere Vorstellungen als die Leute von der Bürgerplattform. "Wir wollen, dass Moldawien sich Russland anschließt", sagt ein junger Mann, "wir sind hier geboren, aber wir fühlen uns russisch." Von einer Annäherung an Moskau verspricht er sich bessere Jobchancen - keiner der jungen Leute hat Arbeit. Bleiben wollen sie bis zu den Präsidentschaftswahlen in sechs Monaten: "Wir hoffen auf einen pro-russischen Präsidenten."

Keine hundert Meter weiter, auf der anderen Straßenseite, befindet sich das Camp der linkspopulistischen "Unsere Partei", die sich den Altkommunisten verbunden fühlt: "Wir protestieren gemeinsam gegen eine korrupte, pro-europäische Regierung", sagt Vize-Parteichef Ilian Casu. Es verwundert nicht, dass er sofortige Neuwahlen fordert: Die pro-russische Opposition führt momentan in den Umfragen, der Einfluss Moskaus wächst. Waren vor fünf Jahren noch 80 Prozent der Moldawier für eine Annäherung an die EU, sind es heute nur mehr 30 Prozent. Es ist skurril, dass ausgerechnet moskautreue Gruppen von der Auseinandersetzung um den Finanzskandal profitieren könnten: Der 28-jährige pro-russische Oligarsch Ilan Schor ist einer der Hauptverdächtigen im Fall der "gestohlenen Milliarde".

Partei-Vize Casu ist siegessicher. Angst vor dem Winter habe hier niemand, poltert er, man werde bleiben, bis die Forderungen erfüllt sind. "Bisher hat die Regierung nicht reagiert, deshalb werden wir den Druck erhöhen." Wie genau das geschehen soll verrät er nicht, nur so viel: "Die Proteste werden eskalieren, mehr Menschen werden sich anschließen." Russland erwähnt Casu nicht. Darauf angesprochen, heißt es: "Es ist egal, ob ich pro-russisch oder pro-europäisch bin. Sicher ist, dass die Reformen bisher nicht funktioniert haben. Moldawien wird der EU nicht beitreten." Stattdessen strebe seine Partei innenpolitische Reformen an, "um den Wohlstand zu erhöhen".

Während Liviu und Grigoriu die Spenden ausgehen, die sie während der Großdemo Anfang September gesammelt haben, ist "Unsere Partei" bestens ausgestattet: Es gibt eine Küche, in der nicht nur heißer Tee und Kaffee, sondern auch warmes Essen verteilt werden; dicke Styroporplatten unter den Zelten schützen vor der schlimmsten Kälte und auf einer Leinwand werden rund um die Uhr Filme übertragen.

"Sie bieten den Menschen im Camp Geld und werden von reichen Privaten finanziert, während uns die Spenden ausgehen", sagt Liviu. Aufgeben sei jedoch keine Option. "Wir müssen es schaffen", sagt er. Und dann, nach einer Pause, in der es scheint, als würde er Alternativen überlegen: "Ja, es ist der einzige Weg."

Dass die Milliarde je wieder auftaucht, glaubt im Protestcamp allerdings niemand: Das Geld bleibt, ebenso wie die fiktiven Kreditnehmer, verschwunden.