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"Wollte mein Volk nicht verraten"

Von Luitgard Koch

Politik
Gianis Varoufakis spricht am4. November im Audimax derWirtschaftsuniversität Wien.reuters

Der ehemalige griechische Finanzminister Varoufakis über das Friedensprojekt Europa, Flüchtlinge und seine Fehler.


In kurzer Zeit avancierte der griechische Wirtschaftswissenschaftler Gianis Varoufakis europaweit zum Hoffnungsträger der Linken. Als der gebürtige Athener für die linke Bewegung Syriza im Jänner Finanzminister wurde, dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble die Stirn bot und sich gegen die Sparpolitik der EU stemmte, wurde er für die Austeritätsgegner zum Idol. Varoufakis legte nur wenige Monate später sein Amt nieder, als Athen eine Kehrtwende zur Sparpolitik vollzog.

"Wiener Zeitung": Herr Varoufakis, einst hieß es, der Euro sei ein Friedensprojekt. Stimmt das noch?

Gianis Varoufakis:
Wir dürfen die Eurozone nicht mit der Europäischen Union gleichsetzen. Die EU war ein großartiges Friedensprojekt. Der Euro jedoch ist das Gegenteil. Weil er so schlecht konzipiert wurde, führte er zur Konfrontation der europäischen Länder. Er zerstörte die Erfolge der EU. Wir haben mit dem Euro eine Währung, die nie von irgendeiner demokratisch gewählten Regierung kontrolliert wurde, sondern nur von Brüssel. Dort existiert zwar ein Parlament, aber nur dem Namen nach, nicht in der Realität. Einmalig in der Welt haben wir mit der EZB eine Zentralbank, die keine Regierung hinter sich hat, und Regierungen ohne eigene Zentralbank. Die EZB hat die irische Regierung etwa praktisch mit vorgehaltener Waffe gezwungen, die horrenden Schulden privater Banken auf den Schultern der Steuerzahler abzuladen. Währungen müssen wieder Werkzeuge werden, um den gemeinsamen Wohlstand zu mehren, nicht Waffen zur Abschaffung der Demokratie.

Was ist der Weg aus der Eurokrise?

Wir müssen anfangen, als Europäer zu denken. Das wirklich zu tun, bedeutet: zu verstehen, dass, wer eine Währungsunion schafft, gleichzeitig auch eine gemeinsame Volkswirtschaft hervorbringt. Und eine gemeinsame Volkswirtschaft verlangt nach einem gemeinsamen Staat, eine föderale Demokratie. Das heißt: "Ein Mensch, eine Stimme" quer durch die gesamte Eurozone. Wir brauchen eine politische Union, nicht nur eine Währungsunion. Das Tragische ist, dass die Eurokrise, anstatt uns zusammenzuschmieden, das Gegenteil erreicht hat.

Sie arbeiten aber daran?

Derzeit schreibe ich gemeinsam mit einigen Mitstreitern aus Deutschland, Frankreich, Spanien, aber auch dem linkssozialdemokratischen Kreisky Forum in Wien an einem "Manifest". Wir wollen es noch vor Weihnachten veröffentlichen. Einigen von uns schwebt eine europäische, verfassungsgebende Versammlung vor. Denn nur eine paneuropäische demokratische Allianz der Bürger, sie können unterschiedlicher Parteien angehören, kann die Grundlage dafür schaffen, dass Reformen Wurzeln schlagen. Ein Rückzug in den Nationalstaat ist keine Option mehr.

Sie glauben an die Vision eines geeinten Europas gemischter Staaten?

Ja, warum reden wir nicht über die Vereinigten Staaten von Europa. Es gibt so etwas wie das Griechenland nicht, es gibt so etwas wie das Österreich nicht. Von Völkern als etwas Gegebenem auszugehen, ist ein Fehler. Das heißt nicht, dass wir nationale Befindlichkeiten nicht respektieren sollten.

Europa bekommt die Flüchtlingskrise nicht in den Griff. Nationen sind verunsichert und gespalten. Es herrscht ein Mangel an Konsens.

Flüchtlinge verwässern nicht automatisch eine Kultur, sondern stärken sie eher. Das ist eine Lektion, die wir von den Amerikanern lernen können. Flüchtlinge sind auch eine Chance. Wenn Sie sich erinnern, dass in Europa bis zum Ersten Weltkrieg keine Pässe existierten - wir hatten zwar Grenzen, aber jeder konnte sich frei bewegen. Es ist eine lächerliche Idee, dass wir eine Festung Europa schaffen und Leute davon abhalten könnten, hierherzukommen. Wenn wir es in Europa nicht schaffen, die Dinge aus der Perspektive unserer Partner zu sehen, auch in Zeiten ernster Konflikte, sind wir dem Untergang geweiht.

Konservative Wirtschaftswissenschaftler wie der Deutsche Hans-Werner Sinn sehen den Grexit und die anschließende Abwertung der Drachme als einzigen Weg zur Gesundung Griechenlands.

Ich kann das nicht unterstützen, weil es in ganz Europa nicht nur eine riesige Depression eines postmodernen 1930er-Zeitalters verursachen würde, sondern dadurch auch den Aufstieg von Ultra-Nationalen, Rechten und Rassisten. Obwohl es zumindest logisch einen Sinn ergäbe, zu den nationalen Währungen zurückzukehren. Auch der deutsche Finanzminister Schäuble brachte vor dem Referendum einen Grexit ins Spiel. Und das, obwohl er kein Mandat dazu hatte. Freilich ist, was wir jetzt haben, nicht nachhaltig, und schädlich für Frieden und Freundschaft zwischen den Ländern. Die Lösung, die ich propagiere, wäre eine Europäisierung in zwei Phasen. Zwar können wir heute nicht sofort einen föderalen Staat bilden, weil der politische Prozess dafür noch nicht existiert. Wir könnten aber schon jetzt Probleme europäisieren, nämlich Investments, den Kampf gegen die Armut, etwa mit Lebensmittelmarken wie in den USA. Und vor allem das Bankensystem, damit wir eine gemeinsame Aufsicht haben. Die Europäische Investitionsbank (EIB) könnte in alternative Energiefirmen oder in Start-ups der Peripherie-Länder investieren. Die EIB-Anleihen sollten dann von der Europäischen Zentralbank gekauft werden.

In der Nacht des Referendums waren Sie mit der Linie Ihres Parteifreunds Alexis Tsipras so wenig einverstanden, dass Sie zurückgetreten sind. Was ist aus Ihrer Freundschaft geworden?

Ich konnte diesen "Faustischen Pakt" nicht eingehen und wollte mein Volk nicht verraten. Lassen Sie mich sagen, ich war enttäuscht. Trotzdem sollten politische Meinungsunterschiede keine persönliche Verbindung zerstören. Wenn eine politische Auseinandersetzung in Feindschaft umschlägt, verlieren wir dadurch einen Teil unserer Menschlichkeit.

Was hat Sie davon abgehalten, die Reeder stärker zu besteuern?

Die meisten sind britische Staatsbürger, ihre Häuser in Athen gehören Offshore-Firmen. Trotzdem haben wir versucht, etwas dagegen zu unternehmen. Nach meinem Rücktritt hat die Troika (der Dreierbund aus IWF, EZB und Europäischer Kommission, Anm.) meine Task Force zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung sofort aufgelöst. Sie ist der beste Freund der Steuerhinterzieher.

Was war Ihr schlimmster Fehler?

Mein größter Fehler war, dass ich geglaubt habe, wenn Politiker und Bürokraten mündlich etwas zusagen, dass dieses Wort gilt. Außerdem hätte ich meine Vorschläge zur Lösung der Krise sofort veröffentlichen sollen. Denn dann hätten die anderen nicht behaupten können, ich hätte keine Konzepte. Wir hatten nämlich durchaus einen sehr spezifischen Reformplan, aber er wurde nie diskutiert. Vor allem, was die Finanzierung betrifft. Wir haben gesagt, dass wir kein weiteres Geld für Griechenland wollen. Wir wollten einen Teil unserer Schulden von der EZB auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM übertragen und einige der EFSF-Schulden umschichten. Das wäre eine sinnvolle Umschichtung der Schulden ohne Schuldenschnitt gewesen. Sie hätte uns ermöglicht, schon im Oktober oder November an die Finanzmärkte zurückzukehren. Deutschland hätte keine Sorgen mehr mit uns gehabt. Doch während wir uns um eine Diskussion bemühten, hieß es in Brüssel, wir hätten keinen Plan. Leider wollte die Mehrheit der Eurogruppe keine ehrenhafte Abmachung mit dieser Regierung treffen. Sie sollte gedemütigt oder gestürzt werden.