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"Wir werden alle eure Probleme lösen"

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Das türkische Parlement wird am Sonntag neu gewählt: Ein Lokalaugenschein aus dem verschlafenen Burdur, das zu den Battleground-Provinzen zählt.


Burdur. Es ist Markttag im 2200-Seelen-Dorf Celtikci mit seinen hübschen Ziegelhäusern in einem malerischen Bergtal unweit der Provinzhauptstadt Burdur. Die warme Herbstsonne scheint auf Bauern in verschlissenen Jackets und Bäuerinnen in weiten, bunten Röcken, die auf dem Platz vor dem Rathaus ihre Waren feilbieten: Mandarinen, Melonen, Paprika aus frischer Ernte. Zwischen ihnen ein paar Kleidungsverkäufer. Jeder hat Zeit für ein Schwätzchen. Es ist ein bisschen, als wäre die Zeit stehengeblieben.

Doch vor der zweiten Parlamentswahl binnen fünf Monaten kommt der verschlafenen Provinz Burdur plötzlich enorme Bedeutung für die Politik und die Zukunft der Türkei zu. Denn die Region gehört zu jenen Provinzen, mit deren Wählerstimmen die seit 13 Jahren regierende islamisch-konservative AKP sich Chancen ausrechnet, das Ruder noch einmal herumzureißen und am Sonntag wieder die absolute Mehrheit im 550 Sitze zählenden Parlament zu erringen. Sie benötigt dafür 18 Mandate mehr als bei der letzten Wahl am 7. Juni.

Eines dieser Mandate will die AKP in Burdur erringen. Die Provinz kann drei Abgeordnete stellen. Bei der Parlamentswahl im Juni gelang es der nationalistischen MHP, der AKP einen ihrer zwei sicher geglaubten Parlamentssitze zu entreißen. Jetzt kämpft die AKP in der Provinz um rund 2500 Wählerstimmen, die für den Rückgewinn reichen.

Eine Frage der Wohltaten

Der Spitzenkandidat der AKP in Burdur heißt Bayram Özcelik, ist von Beruf Zahnarzt, hat drei Kinder und trägt seinen graumelierten Schnurrbart gestutzt nach Art des Parteigründers und jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Gemeinsam mit einer Gruppe mittelalter Herren in altmodischen Anzügen macht er der Landbevölkerung seine Aufwartung und stürmt vor dem Rathaus in Celtikci von Stand zu Stand. Bei jedem Händler bleibt er kurz stehen, erkundigt sich nach Befinden und Wünschen. "Wir werden alle eure Probleme lösen", versichert der 49-jährige Politiker. Was sind die Probleme? Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft, aber die Bauern bekommen immer weniger Geld für ihre Ware, viele haben in den vergangenen Jahren aufgeben müssen. "Die Regierung tut nichts für uns, sie lässt den Preisverfall zu", sagt ein älterer Bauer. Die Jugend wandert dahin ab, wo es Bildung, Arbeit und Geld gibt: an die Küste nach Antalya. Natürlich findet der Mann den Kampf gegen den Terror, gegen die Kurdenguerilla PKK wichtig, aber eigentlich sind in Celtikci diese Probleme des Landes nur ein ferner Widerhall von hinter den Bergen. Terrorismus, Syrienkrieg, Flüchtlinge, das alles kennen die Leute hier nur aus dem Fernsehen. Von der Einschränkung von Freiheitsrechten, der gelenkten Justiz, der Abschaltung von Fernsehsendern haben sie nie gehört oder halten das für antitürkische Propaganda. In Celtikci werden vor der Wahl die kleinen Themen verhandelt, die aber auch existenziell sind.

"Die Menschen fordern bessere staatliche Leistungen, zum Beispiel Straßen", räumt AKP-Kandidat Özcelik im Gespräch ein. Er schaut betont ernst. "Wir sagen ihnen, dass wir diese Leistungen garantieren." Näher ins Detail will er nicht gehen, viel mehr gibt auch sein schriftliches Programm nicht her. Allerdings macht der AKP-Mann recht unumwunden klar, dass es bei der Wahl in der Türkei vor allem um Personen und ihre Wohltaten, weniger um Inhalte geht. "Wir haben bei den Parlamentswahlen Fehler gemacht, aber das wurde korrigiert", sagt Özcelik. "Wo falsche Kandidaten aufgestellt wurden, haben wir sie jetzt ausgetauscht."

Das Ergebnis der Juniwahl hätte die AKP eigentlich gezwungen, eine Koalition einzugehen. Von fast 50 Prozent Stimmenanteil fiel die Partei auf unter 41 Prozent - ein gewaltiger Schock für Führung und Anhänger. Doch der mächtige Präsident lehnte eine Koalitionsregierung strikt ab. Erdogan erklärte das Wahlergebnis zum Versehen und rief schließlich Neuwahlen aus, um den "Fehler zu korrigieren". Nun geht es für die Regierungspartei um alles.

Kaum unentschlossene Wähler

Im "Museumscafé" im Zentrum der Provinzhauptstadt Burdur sitzen zwei Tourismus-Studentinnen und ein Kommilitone und klagen darüber, dass hier anders als in Antalya absolut nichts los sei. "Kein Kino, kein Theater, kein Treffpunkt für junge Leute", sagt die 21-jährige Aysenur, die Jeans und eine modische Lederjacke trägt. Die drei sind eigentlich Anhänger der MHP und bezeichnen sich als national gesinnte "echte Türken", doch zumindest Aysenur will diesmal die AKP wählen, weil sie sich in der gegenwärtigen Krise eine starke Führung und einen starken Präsidenten wünscht.

Das wichtigste Thema ist für alle drei "der Terror", womit sie nicht die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat, sondern die Kurdenguerilla PKK meinen, die sie mit der legalen prokurdischen HDP gleichsetzen. Die HDP hatte bei der Wahl im Juni der Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde geschafft und mit dem erstmaligen Einzug letztlich die absolute Mehrheit der AKP vereitelt. "Wir wollen, dass die HDP aus dem Parlament verschwindet, weil diese Typen Separatisten und Rassisten sind, die ihr Mutterland betrügen", sagt Aysenur nun. Sie finden es gut, dass die AKP-Regierung sich vom Friedensprozess mit den Kurden abgewendet hat.

Die Türkei ist innenpolitisch tief gespalten, in Gegner und Befürworter einer friedlichen Lösung des Kurdenkonfliktes, in Religiöse und Säkulare, vor allem aber in glühende Anhänger und erbitterte Gegner des Präsidenten. Denn auch wenn Erdogan, der die Türkei in ein Präsidialsystem umwandeln will, selbst gar nicht antritt, geht es doch vor allem um ihn: Droht sein politisches Ende oder steigt er doch noch zum allmächtigen Herrscher auf? Das Land ist inzwischen so polarisiert, dass es kaum unentschlossene Wähler gibt. Die meisten Umfragen sagen voraus, dass die AKP wieder bei 41 Prozent landet und die HDP neuerlich den Sprung ins Parlament schafft.

Die Chance der AKP zur Alleinherrschaft besteht deshalb vor allem darin, eine Eigenheit des türkischen Wahlsystems auszunutzen. Denn das Parlament setzt sich nach dem Ergebnis der 85 Wahlbezirke zusammen. "In 36 Provinzen gibt es eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Wechsel je eines Mandates wie in Burdur", sagt der Politikwissenschaftler Behlül Özkan von der Marmara-Universität in Istanbul. "Aber sämtliche Parteien mobilisieren, um die umstrittenen Bezirke zu gewinnen, das macht es unwahrscheinlich, dass die AKP mit ihrer Taktik Erfolg hat."

In Burdur geht es auf den ersten Blick noch vergleichsweise behäbig zu. Doch auch hier hat eine tiefe Verunsicherung die Menschen ergriffen. "Zwei Cousins haben ihre Arbeit verloren. Wir spüren die Krise, haben immer weniger Geld zur Verfügung", sagt eine 50-jährige Mutter von zwei Kindern. Sie will wieder für die CHP stimmen, aber als Beamtin ihren Namen nicht nennen. Sie habe erstmals Angst vor der Zukunft, sagt sie und liefert eine Erklärung, warum dennoch so viele Menschen in Burdur die AKP wählen. "Die AKP hat die Macht des Geldes, sie hilft den Armen mit Kohlen- und Geldspenden. Sie vergibt die Jobs im öffentlichen Dienst. Und die Bauern denken, sie verlieren die staatlichen Beihilfen, wenn sie nicht mehr für die AKP stimmen."

Tatsächlich prangen in Burdur, das mit seiner ländlich-konservativen Wählerstruktur typisch für das ethnisch und religiös weitgehend homogene Hinterland der Mittelmeerküste ist, vor allem AKP-Motive mit Geldversprechen für Pensionisten, Arbeiter und Studenten. Die anderen Parteien können da weder logistisch noch finanziell mithalten. "Die Bedingungen sind nicht fair. Wir haben viel weniger Geld, zumal die AKP staatliche Mittel nutzt, obwohl sie es gar nicht mehr dürfte", sagt der CHP-Spitzenkandidat für Burdur, Mehmet Göker. Was kann die CHP dem entgegensetzen? "Vor allem Glaubwürdigkeit", sagt Göker mit Verweis auf die erstmals im großen Stil durchgeführten Partei-Vorwahlen, die auch viele junge, weibliche und unkonventionelle Vertreter der Zivilgesellschaft hervorgebracht haben.

Alles hängt an Erdogan

Bei vielen in Burdur zündet aber dennoch die AKP-Parole, wonach nur eine starke Alleinregierung die multiplen Krisen im In- und Ausland handhaben kann. Falls die AKP die absolute Mehrheit verfehlt, befürchten zudem viele Türken, dass Erdogan eine weitere Neuwahl anstreben könnte und damit das Land und seine Wirtschaft weiter destabilisiert. Der Präsident sendet bereits entsprechende Signale aus. Am Donnerstag sagte er im Fernsehen: "Die Wahl ist ein Wendepunkt für das Land. Ich hoffe, dass die Bürger die Bildung einer Koalitionsregierung nicht erlauben werden."

In Burdur zumindest sind sich die Spitzenkandidaten mit den Bürgern einig, dass sie keinen weiteren Wahlgang wollen. "Wir haben die Lektion gelernt. Wenn das Ergebnis wieder genauso ausfällt, wird es keine weitere Wahl, sondern eine Koalitionsregierung geben", sagt der AKP-Kandidat Özcelik sehr bestimmt. Bleibt nur die Frage, ob das der Präsident in seinem Palast genauso sieht.