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Generation Maidan

Von Thomas Seifert

Politik

Die jungen Ukraine-Revolutionäre von 2013 sind in den Mühen der Ebene angelangt.


Kiew. "Während wir das alte System zerstören, bauen wir an einem neuen", sagt die ehemalige TV-Journalistin und heutige Parlamentsabgeordnete Switlana Zhalishchuk in ausgesucht gepflegtem Englisch. Die 31-Jährige sitzt mit zwei ihrer jungen Kolleginnen - ebenfalls Abgeordnete zum Werchowna Rada, zum "Obersten Rat", wie das ukrainischen Parlament genannt wird - im Wolkonsky-Café unweit der Nobelmeile Chreschchatyk im Regierungsviertel Lypki.

Zhalishchuk, Hanna Hopko und Nataliya Katser-Buchkovska kommen aus unterschiedlichen politischen Richtungen, haben verschiedene weltanschauliche Ansichten und stammen aus jeweils anderen Regionen des Landes. Doch alle drei gehören im Parlament dem Lager der "Euro-Optimisten" an, jener Gruppe, die für beherzte Reformen eintritt. Die Euro-Optimisten wollen das Land voll und ganz auf Kurs Richtung Westen steuern und fit für einen Beitritt zur Europäischen Union machen. Es ist ein langer Weg dorthin, das wissen die drei jungen Frauen. Das politische System der Ukraine ist völlig korrupt, die derzeit darniederliegende Wirtschaft in der Hand von einem Dutzend Oligarchen, die Justiz machtlos, die Verwaltung ineffizient.

Aber die Generation Maidan, die Gruppe jener jungen Leute, die mit ihren monatelangen Protesten am Hauptplatz von Kiew den pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch aus dem Amt jagten, sind die beste Chance für die Ukraine, die noch immer präsente sowjetische Vergangenheit eines Tages abzuschütteln und ein normales, europäisches Land zu werden. Bis dahin trösten sich die Abgeordneten mit dem abgedroschenen Sinnspruch: Der Weg ist das Ziel. "Wir haben Europa gesucht und die Ukraine gefunden", ist ein Satz, den man in Gesprächen mit politisch interessierten in Kiew immer wieder hört.

Die Protest-Energie des Maidan müsse sich nun in Reform-Kraft niederschlagen, da herrscht bei den drei weiblichen Abgeordneten Einigkeit. Allerdings: Die fiebrige Euphorie der Revolte ist längst der Ernüchterung des mühsamen Reformprozesses gewichen, die Geduld der ukrainischen Bürgerschaft ist langsam erschöpft. Es gebe aber keinen Weg zurück, sagt Zhalinchuk: "Wir haben die Pille geschluckt, als Menschen am Maidan gestorben sind, als Russland die Krim annektierte, als Soldaten und Zivilisten im Südosten des Landes bei der Aggression der Separatisten ums Leben gekommen sind. Nach alldem haben wir nicht das Recht, aufzugeben." Die Ukraine sei auf sich allein gestellt, es sei unrealistisch, darauf zu hoffen, dass die Ukraine in absehbarer Zeit der Europäischen Union beitreten werde: "Europa steckt selbst in Schwierigkeiten. Wir wollen zuerst Europa in unserem eigenen Land aufbauen."

Zhalinchuk, eine frühere Journalistin, gehört zum Block des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, Hopko, ebenfalls Journalistin und Aktivistin gehörte bis vor kurzem der bei gut gebildeten, städtischen Wählern beliebten Partei Samopomitsch an - ist aber heute eine unabhängige Abgeordnete - und Katser-Buchkovska ist bei der konservativen Narodny Front (Volksfront) von Premier Aseniy Yatsenyuk. Zhalinshchuk ist, und da spricht sie für ihre zwei Kolleginnen, stolz darauf, dass das Parlament eine Reihe von Transparenz-Gesetzen beschlossen hat. Das Parlament, Werchowna Rada, hat sich zuletzt dem Kampf gegen die Korruption verschrieben.

Die Kleinen hängt man...

Doch das ist ein zähes Ringen, sind doch in der Vergangenheit immer wieder Korruptionsaffären rund um Parlamentsabgeordnete ruchbar geworden. Und der Kampf gegen die Korruption ist oftmals nicht viel mehr als eine Reality-Show - nach dem Motto: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Es sind in der Vergangenheit zwar einige Staatsanwälte, Polizisten oder Finanzbeamte vor Gericht gestellt worden, an die größeren Fische traut sich bisher aber niemand so richtig heran.

Die Aktivistin Olexandra Drik, auch sie war am Maidan dabei, stimmt dem zu: "Der Oberstaatsanwalt ist nicht in der Lage, seine Arbeit zu tun, und Präsident Petro Poroschenko hat ebenfalls kein Interesse an einem wirkungsvollen Kampf gegen die Korruption", sagt Drik. Die an der Macht befindlichen politischen Eliten seien zu eng mit den Oligarchen - vielfach die Quelle der Korruption - verflochten. Dass die Anti-Korruptionsbehörde unter der Kontrolle des Präsidenten steht, sei ebenfalls "nicht gerade hilfreich". Die Reformen würden regelrecht sabotiert: "Was wir derzeit erleben, ist nichts weniger als eine Konterrevolution des Ancien Régime", klagt Drik. Doch gleichzeitig hätten viele die Kraft der Zivilgesellschaft unterschätzt, sagt Drik: "Der Geist ist aus der Flasche, viele Aktivistinnen und Aktivisten des Euromaidan sind im Parlament, arbeiten in Regierungsdienststellen oder Nichtregierungsorganisationen."

Und als hätte die Ukraine nicht schon genug Probleme, schwelt auch der Krieg im Donbas, im Osten des Landes weiter vor sich hin, auch wenn es zuletzt schien, als würde der Waffenstillstand von beiden Seiten eingehalten.

Im Osten nichts Neues

Vladyslav Makarov ist Chef einer Flüchtlingshilfsorganisation in Dnipropetrovsk. Die Millionenstadt ist nur vier Autostunden von der von Separatisten kontrollierten Stadt Donezk entfernt. Der Taekwondo-Kampfsport-Trainer war während der Maidan-Revolte, die am 21. November 2013 in Kiew begann und am 26. Februar 2014 mit der Flucht des pro-russischen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch endete, in Dnepripretrovsk auf der Straße. Die Stadt ist mehrheitlich russischsprachig, hier hat Oligarch und Multimilliardär Ihor Kolomojskyj (mit rund sechs Milliarden Dollar Privatvermögen der zweit- oder drittreichste Ukrainer) das Sagen. "Wir sind nur Schachfiguren auf Wladimir Putins geopolitischem Schachbrett", klagt Makarov. Nach der Annexion der Krim kamen die ersten Flüchtlinge in die Stadt, als die Kämpfe im Donbass begannen, kamen weitere zigtausend. Es sei anfangs darum gegangen, den Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu geben, Essen und medizinische Versorgung. "Nun müssen die Flüchtlinge rasch Bürger von Dnipropetrovsk werden", sagt er. Maidan-Aktivist Makarov ist politisch desillusioniert, in der ukrainischen Politik zähle allein das Geld, klagt er. Warum Menschen wie er nicht in die Politik gehen? "Sehe ich aus, als hätte ich Geld?", sagt er und lächelt verschmitzt. Aber in einem von pro-russischen Separatisten kontrollierten Land möchte er noch weniger leben als in der Ukraine, fügt er hinzu.

Die in Kiew lebende Natalja Woronkowa hat ebenfalls im Osten des Landes ihre Berufung gefunden. Auch ihr politischer Erweckungsprozess begann am Maidan, wo sie sich für die Arbeit in einem Lazarett meldete, wo verwundete Demonstranten ärztlich versorgt wurden. Woronkowa, die aus einer wohlhabenden Familie stammt und Direktorin einer Pharma-Firma und später einer Reklame-Firma war, begann sich nach den Maidan-Protesten für Kriegsopfer im Osten des Landes zu engagieren. "Man kann doch nicht vor dem Fernseher herumsitzen, wenn es im Osten des Landes hunderte, tausende Tote gibt", sagt sie. Also hat sie Hilfslieferungen für Zivilisten in den umkämpften Dörfern und Städten organisiert - vor allem im zwischen Donezk und Luhansk gelegenen Debalzewe - und Unterstützung für Soldaten und Freiwillige, die gegen die Separatisten kämpften. Für Woronkowa, die Mutter zweier Kinder, ist der Krieg sehr persönlich geworden, vor allem als ein enger Freund von ihr erschossen wurde und eine Familie, die sie stets unterstützt hat, ausgelöscht worden ist. Verständlich, dass ihre Familie ihr Engagement mit Argwohn betrachtet: "Was soll ich tun: Für mich gibt es kein Zurück."