Zum Hauptinhalt springen

Industriebrachen für den Scheich

Von Alexander Dworzak aus Manchester

Politik

In Manchester will Abu Dhabis stellvertretender Premier mit Wohnbau verdienen.


Manchester. Massen, deren Gesichtszüge unkenntlich sind, trotten über den Gehsteig. Eilig ziehen Pferdekutschen an ihnen vorbei. Im Hintergrund rauchen die Schlote, wird schon wieder an einem neuen Gebäude gewerkt. Nebel und Ruß aus den Fabriken machen aus der Stadt eine trübe Suppe. Diese Szene aus Manchester beschrieb der französische Impressionist Adolphe Valette in seinem Bild "Oxford Road" aus dem Jahr 1910. Rund 700.000 Einwohner zählte die nordenglische Metropole damals. Die Mutter aller Industriestädte schwoll ab Mitte des 19. Jahrhunderts rasant an. Nicht einmal annähernd hielten die Rechte der Arbeiter Schritt; ihre Verelendung war dem sogenannten Manchester-Kapitalismus inhärent. Der Niedergang der Industrie erfasste die Stadt mit ebensolcher Wucht wie der Aufstieg: 1971 lebten nur mehr 540.000 Personen in Manchester, bis 2001 sank die Einwohnerzahl gar auf 423.000.

Kreativ-trendig soll’s sein

In Ancoats, einen Steinwurf nordöstlich des Stadtzentrums gelegen, ist der Verfall auch heute allgegenwärtig: Nur noch Straßennamen wie Cotton Street zeugen von der einst allgegenwärtigen Textilverarbeitung. Typische englische Einfamilienhäuser mit Kleingärten wechseln mit einem großen Sozialbau, Brachland zeugt von massenweise abgetragenen Fabriken, von denen viele ungenutzte noch heute stehen. Dazwischen gibt es aber Pflänzchen der Regeneration: Fabriken mit Backsteinbau-Fassade, die zu Lofts umgebaut wurden. Wer etwa in der denkmalgeschützten "Royal Mill" wohnen möchte, ist zum Kaufpreis von 3000 Pfund (4200 Euro) pro Quadratmeter dabei. Ein Dienstleister für Zeitarbeiter hat sich in Ancoats angesiedelt, auch ein paar Lokale mit bemüht-legerem Ambiente versuchen ihr Glück. Eine Schule, die das Wort "kreativ" bereits im Namen trägt, soll den 14- bis 19-Jährigen laut Eigenwerbung als Sprungbrett in die "Kreativ- und Digitalwirtschaft" dienen.

Als trendig-kreative Medienmetropole und Dienstleistungszentrum - oft sind es Billig-Jobs - hat sich Manchester in den vergangenen Jahren neu positioniert. Fast 100.000 Einwohner sind seit 2001 hinzugekommen. Nach London ist Manchester die schnellstwachsende Stadt Großbritanniens. Für den Zuzug sorgen auch prominente Neuankömmlinge wie die BBC, die einen Gutteil ihrer Produktionen aus London in den Norden verlegt hat.

Vermeintlicher "weißer Ritter"

Bis vor kurzem völlig heruntergekommene Gegenden wie Ancoats werden für Immobilieninvestoren attraktiv. Der bekannteste unter ihnen ist Mansour Bin Zayed Al Nahyan. "Scheich Mansour" wird der elfte der 19 Söhne des Staatsgründers der Vereinigten Arabischen Emirate von Politikern und Bürgern Manchesters unisono genannt. Der 45-Jährige ist in der Stadt kein Unbekannter, kaufte Mansour doch 2008 den Fußballklub Manchester City. In den Traditionsverein, der in seiner Geschichte zumeist im Schatten seines Stadtrivalen Manchester United stand, investierte er seitdem rund eine Milliarde Euro. Dem Verein spendierte Mansour eine Nachwuchsakademie um astronomische 250 Millionen Euro.

Auch über die Fanbasis der "Citizens" hinaus genießt Mansour einen wesentlich besseren Ruf als die Familie Glazer, Eigentümerin von Manchester United. Denn die US-Familie hat den Verein kreditfinanziert gekauft und diesem Schulden en masse aufgebürdet. Während die Glazers mit United Geld verdienen wollen, nimmt Mansour Millionenverluste seines Klubs bereitwillig in Kauf: Er inszeniert sich als "weißen Ritter" und poliert sowohl sein Image als auch das Abu Dhabis auf.

Der geschäftstüchtige Mansour - er dient dem Emirat am Persischen Golf als stellvertretender Ministerpräsident und steht dem Staatsfonds Ipic vor, der auch Großaktionär der OMV ist - hat ein anderes Geschäftsmodell: am Aufschwung Manchesters profitieren. Um 7 Millionen Pfund kaufte er von der Stadt fünf Grundstücke in Ancoats. 2500 Wohnungen sind dort geplant; sie werden aufgrund der Nähe zum Stadtzentrum und der Wohnungsknappheit wohl reißenden Absatz finden. Wo einst Arbeiter ausgebeutet wurden, leben künftig Personen in Wohntürmen eines Potentaten, in dessen Heimat "Gastarbeiter" heutzutage unter teils sklavenhaften Bedingungen schuften.

Die Kommune empfängt Investoren wie "Scheich Mansour" mit offenen Armen. Ihr fehlen die Mittel, Gegenden vom Schlage Ancoats’ alleine zu entwickeln. In Greater Manchester, das neben der Stadt neun benachbarte Gegenden umfasst, sind die Preise aufgrund der zu geringen Bautätigkeit und des Zuzugs - benötigt werden 10.000 neue Wohnungen pro Jahr, gebaut werden nur 3000 - enorm gestiegen: "Bei Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 zahlte man in Ancoats für eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern 300 Pfund pro Monat Miete (exklusive Betriebskosten). Heute sind es 1100 Pfund", sagt Phil Collings von der staatlichen Homes & Community Agency.

Dermaßen große Preissprünge sind möglich, weil der private Mietmarkt in Großbritannien praktisch unreguliert ist; Mietverträge werden in der Regel nur über sechs bis zwölf Monate abgeschlossen, der Vermieter kann bei Verlängerung den Mietzins beliebig erhöhen.

Wer kann, kauft daher. Wer nicht kann, soll trotzdem kaufen. Das ist das Ergebnis der von Margaret Thatcher propagierten "Ownership Society", die Großbritanniens Wohnungsmarkt ab den 1980ern völlig umgekrempelt hat. Mit Preisnachlässen von bis zu 75 Prozent wurden in der Ära der ehemaligen Premierministerin 1,2 Millionen Sozialwohnungen an die bisherigen Mieter verschleudert. Thatcher wollte sich damit auch die Stimmen der wenig Begüterten sichern.

Private Schulden steigen rasant

Nicht nur wurden mittlerweile zwei Drittel der früheren Sozialwohnungen privatisiert, welche viele der neuen Eigentümer später gewinnbringend weiterkauft haben. Auch wurden für den Erwerb von Wohnungen und Häusern steuerliche Absatzmöglichkeiten geschaffen - nicht nur unter den konservativen Tories, sondern auch unter den Labour-Regierungen von 1997 bis 2010. "Die Sozialdemokraten reduzierten zwar die Rabatte beim Kauf, das sogenannte ,Right to Buy‘-Programm wurde aber nicht eingestellt", sagt Derek Long, Geschäftsführer der Beratungsgesellschaft Arc4. Die Verschuldung der privaten Haushalte stieg daher in den vergangenen Jahrzehnten beträchtlich: von 23 Prozent des Bruttoinlandsprodukts 1980 auf 83 Prozent im Jahr 2011.

Premier David Cameron knüpft an den Privatisierungseifer Thatchers an. Verlierer sind die gemeinnützigen Wohnbaugesellschaften (Housing Agencies, HA). Ihnen wurde unter der "Eisernen Lady" ein Gutteil des verbliebenen kommunalen Wohnungsbestandes übertragen. Cameron will das "Right to Buy"-Programm auf die unabhängigen HA ausdehnen: Entweder diese stimmen dem Vorhaben zu, oder sie werden verstaatlicht, drohte der Premier Ende September, und ließ lediglich acht Tage Bedenkzeit. Von "quasi-bolschewistischer staatlicher Gewalt" schrieb der britische "Guardian" in diesem Zusammenhang.

"Tod sozialen Wohnungsbaus"

Dermaßen unter Druck gesetzt, votierte die Mehrheit der HA für die offiziell "freiwillige Vereinbarung" mit dem Premier. Nicht nur können Mieter gemeinnütziger Wohnungen somit künftig ihr Heim kaufen. Auch müssen die HA die verlorengegangenen Wohnungsbestände binnen zwei Jahren kompensieren. Damit wird ein Wettlauf um Baugründe angezettelt. Und drittens verlangt die Regierung, die Miete in den gemeinnützigen Wohnbauten müsse in den kommenden vier Jahren um ein Prozent pro Jahr sinken - bisher stieg sie um ein Prozent pro Jahr, sofern Inflation herschte. Für die HA bedeutet das einen Einnahmenausfall, die Regierung spart sich Geld, weil sie vielen Mietern Zuschüsse gewährt.

"Werden die Pläne Camerons so umgesetzt, bedeutet das den Tod des sozialen Wohnungsbaus." Das sagte kein Sozialist, sondern der Chef der britischen Liberaldemokraten, Tim Farron, kürzlich. Inzwischen hat die britische Statistikbehörde entschieden, dass jene 60 Milliarden Pfund, welche die HA den Banken schuldet, zum Staatshaushalt zu zählen sind. Schatzkanzler George Osbourne, der eine strenge Sparpolitik verfolgt, könnte die Schulden weiterverkaufen. Private Investoren hätten dann den Fuß sehr weit in der Türe bei den HA, deren Bestände 400 Milliarden Pfund (561 Milliarden Euro) wert sind. Und Premier David Cameron käme der "Ownership Society" näher, als es Margaret Thatcher je tat.

Redaktioneller Hinweis:
Die Reise erfolgte auf Einladung des Vereins für Wohnbauförderung.