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"Eine neue Elite betritt die Bühne"

Von Michael Schmölzer

Politik
Streitfall Flüchtlinge: "Polen will freiwillig entscheiden" - Botschafter Lorkowski im Gespräch.
© Hutter

Machtwechsel in Warschau - das neue Parlament tritt zusammen, die Nationalkonservativen kommen mit absoluter Mehrheit an die Regierung. Die "Wiener Zeitung" hat mit dem polnischen Botschafter in Österreich, Artur Lorkowski, gesprochen.


Am heutigen Donnerstag reicht Polens bisherige Regierung den Rücktritt ein, damit geht die Macht an die national-konservative PiS über, die künftig mit absoluter Mehrheit regieren wird. In Europa schrillen die Alarmglocken, Politiker und Kommentatoren befürchten, dass Polen künftig einen stark nationalen und anti-europäischen Kurs einschlagen könnte. Vor allem in der Flüchtlingsfrage sieht man in Brüssel schwarz. Beim heutigen EU-Afrika-Gipfel, bei dem es gerade um die Flüchtlingsfrage geht, wird Polen jedenfalls nicht vertreten sein. Gestern, Mittwoch, kam es in Warschau zu fremdenfeindlichen Demonstrationen, die Angst vor Ausschreitungen war groß.

"Wiener Zeitung":Muss man um Polen bangen?Artur Lorkowski: Nein, 25 Jahre nach der Wende ist Polen eine reife, stabile Demokratie. Niemand sollte sich Sorgen machen.

Es liegen jetzt Pläne auf dem Tisch, dass Banken in Polen mit einer neuen Steuer zur Kasse gebeten werden sollen, auch große Supermärkte könnte das treffen. Müssen große europäische Firmen Angst haben?

Das sind Hinweise, die aus der Wahlkampagne stammen. Das Wirtschafts- und Investitionsklima in Polen ist ganz hervorragend. Das bestätigen unabhängige Berichte der Weltbank. Polen ist auf den 25. Platz im Doing-Business-Ranking aufgerückt.

2004 ist Polen der EU beigetreten. Wenn man jetzt Resümee zieht: Hat Polen profitiert, haben die Menschen profitiert? Oder gibt es da Schattenseiten?

Nicht nur Polen, ganz Europa hat von dem Beitritt profitiert. Daran gibt es keinen Zweifel. Vor allem auch Österreich. In Polen hat sich das Bruttoinlandsprodukt seit der Wende verdoppelt und seit dem Beitritt um mehr als 50 Prozent gesteigert. Die Arbeitslosenquote ist von 20 Prozent auf unter 10 Prozent gesunken. Die polnischen Exporte haben sich verdreifacht. Das ist ein einzigartiges Ergebnis. Aber Österreich als Grenzland zum ehemaligen Ostblock hat ebenfalls enorm profitiert. Vor allem wirtschaftlich.



Stichwort Asylpolitik: Polen ist keines jener Länder, das besonders viele Flüchtlinge aufnehmen will. Was sagen Sie dazu?

Die EU hat schon zwei Mal die Entscheidung getroffen, Flüchtlinge zwischen den EU-Staaten zu verteilen. Polen hat zwei Mal zugesagt. Für Polen ist wichtig, dass diese Entscheidung freiwillig getroffen werden kann. Und für Polen ist wichtig, dass diese Entscheidung innerhalb eines komplexen europäischen Rahmenwerks getroffen wird. Wir brauchen neben der Verteilung von Flüchtlingen einen wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen. Deswegen freut uns die Entscheidung im Europäischen Rat, die europäischen Außengrenzen stärker zu schützen. Wir haben die längste EU-Außenlandesgrenze zu Weißrussland und zur Ukraine, wir wissen genau, was es bedeutet, diese Grenzen zu schützen.

Rechnen Sie mit einem Flüchtlingsstrom aus der Ukraine?

Es gibt derzeit keine Flüchtlinge aus der Ukraine, weil die Ukraine ihre Bürger schützen kann. Derzeit - und wie ich hoffe, auch zukünftig. Aber 400.000 Ukrainer haben in Polen eine kurzfristige Arbeitsbewilligung in der ersten Hälfte 2015 erhalten. Die Zahl hat sich in einem Jahr verdoppelt.



Wie wichtig ist der polnischen Regierung die Religionszugehörigkeit der Flüchtlinge?

Es geht darum, Menschen zu helfen. Polen hat nie entschieden, nur Christen aufzunehmen. Wir müssen diesen Leuten aber eine Perspektive geben. Und diese Perspektive heißt Integration. Wir müssen die Asylpolitik so gestalten, dass diese Integrationsprozesse erleichtert werden.

Polen ist ja auch Mitglied der Visegrad-4 mit Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Hier ist man in vielen Fragen einer Meinung - vor allem, was Flüchtlinge betrifft. Wird die Zusammenarbeit hier in Zukunft wichtiger werden?

2016 feiern wir das 25-Jahr-Jubiläum der Visegrad-Kooperation. Diese Zusammenarbeit hat schon eine gewisse Tradition. Wir haben die zwei strategischen Ziele erreicht: Mitglied der Nato und der EU zu werden. Diese Kooperation ist aus unserer Sicht notwendig, vor allem um unser gemeinsames Interesse innerhalb der Europäischen Union zu präsentieren. Das Flüchtlingsthema ist eines dieser Interessen. Es gibt noch viele andere Themen. Die Bankenunion, die Währungs- und Wirtschaftsunion, Energieunion: Es gibt viele Bereiche, in denen wir eine gemeinsame Position vertreten.



Worum geht es eigentlich im bilateralen Verhältnis Österreich-Polen?

In erster Linie um die Europäische Union. Das ist die Brücke, das ist eine Plattform, wo wir unsere gemeinsamen Interessen umsetzen. Es geht um die Entwicklung neuer Politiken wie Asyl-, Währungs- und Wirtschaftspolitik, eine gemeinsame Energiepolitik. Das ist unsere gemeinsame Herausforderung.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass es zu einem "Europa A" mit Deutschland und Frankreich als Anführern und einem "Europa B" der Visegrad-Staaten kommt, die ihr eigenes Süppchen kochen?

Es ist umgekehrt. Gerade in den EU-Mitgliedsstaaten östlich von Österreich herrscht ein großer Enthusiasmus für die EU. Ich vertrete ein Land, wo die Zustimmung zur EU 86 Prozent beträgt. Außerdem gibt es noch ein zweites Kooperationsforum, das wichtig für uns ist: das Weimarer
Dreieck mit Frankreich und Deutschland. Aber auch die Nato ist wichtig angesichts einer heiklen Sicherheitslage. Es ist kein Zufall, dass nächstes Jahr der Nato-Gipfel in Warschau stattfinden wird.

Russland ist ein Risikofaktor für Polen geworden. Oder gehe ich mit dieser Behauptung zu weit?

Die Sicherheitslage in Europa hat sich geändert und es ist kein Geheimnis, dass das durch Russland ausgelöst wurde: durch den Angriff auf die Krim und durch die Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine. Es läuft der Prozess von Minsk und wir hoffen, die Sache bis Ende des Jahres nicht nur zu stabilisieren sondern auch zu lösen. Es ist aber auch nötig, dass sich die Nato überlegt, wie sie auf die neuen strategischen Herausforderungen reagiert.

Mit Donald Tusk ist ein Pole Präsident des EU-Rates. Wie wird das in Polen wahrgenommen? Ist man stolz darauf? Hat sein Wort Gewicht?

Tusk hat als Ministerpräsident stark dazu beigetragen, dass die Polen stolz auf die Errungenschaften der letzten Jahre sind. Wir sind stolz, dass ein Pole an der Spitze des Europäischen Rates steht. Polen war immer für eine starke Europäische Union, starke EU-Institutionen. Denn Europa kann nur so stark sein wie seine Institutionen.

Wie würden Sie einem Österreicher von der Straße den polnischen Patriotismus erklären?

Steuern zahlen.

Verstehe ich jetzt nicht.

Patriotismus heute: Das ist das Engagement in der Arbeit. Dass neue kreative Firmen entstehen. Ich wünsche mir sehr, dass wir in Zukunft nicht mehr auf den altmodischen Patriotismus angewiesen sind. Patriotismus heißt auch Zusammenarbeit in der Europäischen Union, in der Nato.

Was wäre für Sie altmodischer polnischer Patriotismus?

Der erklärt sich aus unserer Geschichte. Das ist ein Kampf, ein physischer Kampf um die Unabhängigkeit. Vor 25 Jahren haben wir sie wiedererlangt.

Und Sie rufen Ihren polnischen Landsleuten in Wien zu: Der Kampf ist vorbei!

Jetzt ist es an der Zeit, einen Beitrag für das moderne Polen zu leisten. Das ist selbstverständlich heute. Die alte Politiker-Generation, die die Unabhängigkeit erreicht hat, ist heute nicht mehr auf der politischen Bühne. Das ist auch ein Ergebnis der letzten Wahlen: Eine neue polnische Elite ist auf die Bühne gekommen.