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Die ohnmächtigen Überwacher

Von Ronald Schönhuber und Veronika Eschbacher

Politik

Ein solch komplexes Attentat wie jenes von Paris hätte den Geheimdiensten eigentlich nicht verborgen bleiben dürfen. | Doch die Zahl der potenziellen Terroristen ist mittlerweile so groß, dass oft nur noch punktuell hingesehen werden kann.


Paris/London/Wien. Aus der Sicht des britischen Premierministers David Cameron gibt es eine eindeutige Antwort auf jene schrecklichen Ereignisse, die Frankreich in seinen Grundfesten erschüttert haben. Das Personal der britischen Nachrichtendienste wird um 15 Prozent aufgestockt, insgesamt bekommen MI5, MI6 und GCHQ 1900 neue Mitarbeiter. "Die britischen Bürger zu schützen, ist meine oberste Pflicht", sagt Cameron.

Die Bürger schützen, das wollte auch die französische Regierung. Vor allem seit Frankreich im Jänner so offensichtlich zur Zielscheibe des dschihadistischen Terrors geworden ist. Ebenso wie an diesem Freitag, als bei mehreren Anschlägen in der Pariser Innenstadt rund 130 Menschen ums Leben kamen, schallten auch zu Jahresbeginn "Allahu akbar"-Rufe durch die Straßen, und junge Männer mit Kalaschnikows schossen wahllos um sich. 12 getötete Redaktionsmitglieder beim Satiremagazin "Charlie Hebdo" und vier ums Leben gekommene Geiseln in einem jüdischen Supermarkt ließen Frankreich damals fassungslos zurück.

Aufrüsten nach Charlie Hebdo

Um ein zweites "Charlie Hebdo" so gut wie möglich zu verhindern, wurde in Frankreich an allen Schrauben gedreht. Im Großraum Paris gilt seit den Anschlägen im Jänner die höchste Sicherheitswarnstufe, rund 4000 Soldaten waren im Einsatz, um "gefährdete Orte" wie Flughäfen, Bahnhöfe, Touristenattraktionen oder religiöse Einrichtungen zu schützen. Hinzu kam Ende Oktober ein im europäischen Vergleich äußerst rigides und von Datenschützern und Journalisten heftig kritisiertes Geheimdienstgesetz, das es ermöglicht, Verdächtige auch ohne Zustimmung eines Richters abzuhören. Erweitert wurde auch die Vorratsdatenspeicherung, die es in Frankreich schon bei den "Charlie Hebdo"-Attentaten gegeben hat. Dank des neuen Gesetzes können die Geheimdienste die gesamte Internetkommunikation quasi in Echtzeit überwachen, mit vorher definierten Rastern wird automatisch nach Hinweisen auf terroristische Aktivitäten gesucht.

Dass Frankreich so reagiert hat, mag viel mit dem Schock zu tun gehabt haben, der das Land im Jänner erfasst hat. Oder auch mit der noch immer exponierten weltpolitischen Rolle eines Landes, das fernab der Heimat Krieg führt. Es mag wohl aber auch damit zu tun gehabt haben, dass die Geheimdienste massiv unter Druck standen. Denn alle islamistischen Terroristen, die in Frankreich in jüngster Zeit Anschläge geplant oder verübt haben, waren den Sicherheitsbehörden bekannt. Mohammed Merah, der 2012 in Toulouse und Umgebung sieben Menschen erschossen hat, konnte die hellhörig gewordenen Geheimdienstmitarbeiter etwa überzeugen, dass er nur als archäologisch interessierter Tourist Afghanistan und Pakistan besucht hat. Über den "Charlie Hebdo"-Attentäter Cherif Kouachi war bekannt, dass er einst zum Dschihad in den Irak reisen wollte, 2008 war der 32-Jährige wegen der Mitgliedschaft in einem Islamistennetzwerk zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Und auch in den Akten von Yassin Salhi, der im Juni knapp damit scheiterte, ein Gaslager bei Lyon in die Luft zu jagen, fand sich der Buchstabe "S", mit dem die französischen Behörden islamistisch-dschihadistische Gefährder vermerken.

Auch von den jetzigen Attentätern dürften einige den Geheimdiensten bereits bekannt gewesen sein. Doch die Dschihadisten, die bereits zur Tat geschritten sind, sind nur die Spitze eines sicherheitspolitischen Eisbergs. Laut dem "Figaro" tragen mittlerweile 11.400 Personen den Vermerk "S". Viele von ihnen wurden nicht nur in den französischen Moscheen radikalisiert, sondern sind kampferprobt aus dem Dschihad in Syrien zurückgekehrt. "Alle diese Personen Tag und Nacht zu überwachen, das gelingt nicht", sagt Siegfried Beer, der Leiter des Austrian Center for Intelligence, Propaganda & Security Studies, gegenüber der "Wiener Zeitung". "In Österreich spricht man von 250 Personen mit Bedrohungspotenzial, und wir haben alle Hände voll zu tun, um das zu schaffen."

Die Geheimdienste setzen daher Prioritäten und konzentrieren sich auf jene Islamisten, die hinsichtlich ihres Gefährdungspotenzials ganz oben auf den entsprechenden Listen stehen. Verdächtige, bei denen das Gefährdungspotenzial als niedriger eingestuft wird, werden dagegen vor allem stichprobenartig überwacht.

Zögerliche Kooperation

Doch es dürfte nicht allein an der Unmöglichkeit der systematischen Überwachung gelegen haben, dass die jetzigen Anschlagsplanungen trotz ihrer offensichtlichen Größe und Komplexität unbemerkt blieben. Experten wie Beer sehen auch das Problem, dass es keine wirklich gut funktionierende Intelligence-Community für den ganzen Kontinent gebe. "Die Schwierigkeit ist, dass Nachrichtendienste nicht alles preisgeben. Jeder hat sein eigenes Interesse", sagte Beer. Laut dem israelische Geheimdienstkenner Ronen Bergman dürfte Frankreich hier aber besonders zurückhaltend sein. So zögere man immer wieder, Informationen mit Partnern zu teilen und den eigenen Antiterrorkampf besser international zu koordinieren, sagt Bergman der "FAZ". So habe Frankreich vor zwei Wochen aus Amerika Hinweise darauf erhalten, dass sich die Kommunikation zwischen IS-Mitgliedern im Nahen Osten und möglichen französischen Unterstützern deutlich intensiviert habe. Frankreich habe darauf aber nicht präventiv reagiert, sondern vor allem den Schutz seiner Auslandsvertretungen verstärkt.