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Die verlorene Normalität

Von Klaus Huhold

Politik

Die Absage des Fußballmatches in Deutschland zeigt, wie weit wir noch von einer Rückkehr in den Alltag entfernt sind. Gedanken über unsere Verwundbarkeit als Massengesellschaft.


Paris/Hannover/Wien. An diesem Abend hätte wieder ein wenig Normalität nach Europa zurückkehren sollen. Doch das hat nicht geklappt. Davon zeugen auch am Morgen danach die Bilder aus Hannover. Der Bahnhof ist unbelebter als sonst. "Normalerweise würden Sie jetzt dreimal so viele Pendler sehen, da wäre hier alles rappelvoll", sagt ein Bahnmitarbeiter der Nachrichtenagentur dpa. Doch viele haben nun offenbar Angst. Stattdessen patrouillieren schwer bewaffnete Polizisten auf dem Gelände. "Es ist traurig, aber man fühlt sich plötzlich schutzlos", sagt ein Bahnfahrer, der, obwohl großer Fußballfan, nun die Spiele von Hannover 96 meiden will.

Es gibt keinen Platz für Fehlinterpretationen

Am Dienstagabend ist das Länderspiel zwischen Deutschland und den Niederlanden abgesagt worden. Es haben laut Deutschlands Innenminister Thomas de Maiziere konkrete Hinweise auf eine Gefährdung vorgelegen. "Es gab keinen Platz für Fehlinterpretationen." So drückte es Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius aus. Auch das Match zwischen Belgien und Spanien konnte wegen Sicherheitsbedenken nicht stattfinden.

Wie gefährlich die Lage nun tatsächlich war, wird sich erst weisen - wenn es die Behörden jemals verraten. Die Symbolik der Ereignisse ist aber jetzt schon immens: Die Rückkehr zum gewohnten Alltag fällt nicht so leicht, wie wir uns das wünschen. "Mein Eindruck ist, dass der Fußball in Deutschland mit dem heutigen Tage in allen Facetten eine andere Wendung genommen hat", sagte DFB-Interimspräsident Reinhard Rauball. Ausgerechnet den Fußball, bei dem so viele Menschen oft nur Ablenkung von ihren Sorgen suchen, haben die Terroristen nun zum Spielfeld ihrer kriegerischen Auseinandersetzung gemacht.

Freilich ist es kein Zufall, dass sie ausgerechnet dieses Spektakel für ihre Angriffe ausgewählt haben. Beim Fußball, diesem Vergnügungs-Event und Massenphänomen, können die Attentäter die Gesellschaft an einem äußerst wunden Punkt treffen. Es gibt in Europa kein anderes Ereignis, bei dem Woche für Woche in den verschiedensten Städten so viele Menschen an einem Ort zusammenkommen (und bei dem die Polizei manchmal mit ganz anderen Aufgaben als der Terrorabwehr beschäftigt ist).

Der Sport ist aber nicht die einzige Massenveranstaltung: Weihnachtsmärkte, Popkonzerte, Kinobesuche - um uns zu vergnügen, kommen wir zusammen. Und wir wollen uns weiter vergnügen - auch um die Terroristen nicht gewinnen zu lassen. Manche formulieren das trotzig, manche larmoyant - wie der Komiker Helge Schneider, der am Dienstagabend ebenfalls einen Auftritt in Hannover absagen musste. "Wenn das so weitergeht und ich am Ende morgen auch nochmal absagen muss, komme ich Donnerstag wieder", sagt Schneider in einem Video auf seiner Facebook-Seite, während er genüsslich eine Mandarine isst.

Doch werden auch die Zuschauer kommen? Oder gibt es vielleicht doch einen Unterschied zwischen dem allgemeinen Wunsch und der Handlung des Einzelnen: Freilich unterstützen nun Tausende in den sozialen Medien die Aufrufe, sich nicht unterkriegen zu lassen und weiterzufeiern. Doch lässt man dann auch das eigene Kind zum Konzert, wenn sich dieses mulmige Gefühl in der Magengrube meldet?

Unverwundbar können wir aber ohnehin nicht werden. Unser Alltag funktioniert nur, indem wir uns als Masse organisieren. In der U-Bahn, im Verkehrsstau auf Flughäfen, in Bürogebäuden - ständig kommen wir als größere Menschenmenge zusammen.

Und in dieser Masse bewegen sich die Attentäter, weshalb Geheimdienste und Behörden unablässig versuchen, den einzelnen Gefährder, den einzelnen Terroristen aus der Menge herauszufischen. Die Beziehung zwischen den Bürger und der Masse, deren Teil er ist, ist somit eine der drängendsten Fragen. Wie weit wollen wir uns als Masse überwachen lassen, ohne dass wir unsere individuelle Freiheit bedroht sehen?

Und hier hat sich ohnehin schon einiges seit dem 11. September verschoben. Die Vorratsdatenspeicherung und das massive Vordringen von Videokameras sind nur zwei Beispiele - was heute Normalität ist, hätte früher wohl zu mehr Widerstand geführt.

Generell ist es eine Eigenschaft der Normalität, dass sie sich verschiebt. Ein anderes Leben mit dem Terror könnte also auch in europäischen Staaten Alltag werden. Im schlimmsten Fall so, wie es in anderen Ländern, die schon viel länger und stärker von ständigen Anschlägen bedroht werden, gang und gäbe ist: Etwa in Pakistan, wo manche Eltern ihre Kinder auf dem Schulweg in verschiedene Busse setzen, damit eines überlebt, wenn ein Fahrzeug in die Luft fliegt.

Aber es könnte auch ganz anders werden: Es gab ja schon fürchterliche Anschläge in Europa, etwa 2004 auf Züge in Madrid. Und nach dem ersten großen Schrecken haben diejenigen, die nicht unmittelbar betroffen waren, wieder in ihren Alltag zurückgefunden - was ja auch mit psychischem Selbstschutz zu tun hat, niemand hält sich gerne ständig die Bedrohung vor Augen.

Der IS folgt einer perversen Logik der Grausamkeit

Retrospektiv betrachtet haben die Madrider Anschläge nicht viel am europäischen Lebensgefühl verändert. Was ja auch als Sieg gegen die Terroristen betrachtet werden kann. Aber wird es diesmal wieder so sein? Es gibt leider Anlass zu Pessimismus. Zu stark scheint derzeit die Bedrohungslage mit all den Syrien-Rückkehrern zu sein, zu eng waren zuletzt die Anschläge getaktet - "Charlie Hebdo" und die nunmehrige Terrorserie spielten sich im selben Jahr ab. Außerdem will der IS in seiner perversen Logik jede Gräueltat mit einer noch grausameren übertreffen. Unsere Normalität wird sich wohl abermals verschieben - wie sehr, das wird sich erst in den nächsten Monaten weisen. Auch wenn wir diese Ungewissheit so gerne sofort los sein würden.