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Die ewige Nummer zwei

Von Christine Zeiner

Politik

SPD-Chef Sigmar Gabriel stellt sich der Wiederwahl beim Parteitag der deutschen Sozialdemokraten. Gesine Schwan, zweifache SPD-Präsidentschaftskandidatin, kritisiert, die Parteispitze fordere Kanzlerin Merkel zu wenig heraus.


Berlin. Unweit jener Berliner Halle, in der die SPD derzeit ihren Parteitag abhält, befindet sich eine Notunterkunft für mehr als 1000 Flüchtlinge. Trotz der umstrittenen Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel kommt die SPD in Umfragen nicht vom Fleck, lediglich ein Viertel der Deutschen würde die Sozialdemokraten nach jetzigem Stand wählen. Parteichef Sigmar Gabriel, der sich am heutigen Freitag der Wiederwahl stellt, war bereits Minister unter Angela Merkel während der schwarz-roten Koalition von 2005 bis 2009. Seit 2013 ist Gabriel Wirtschaftsminister und Vizekanzler einer abermals großen Regierung - und Angela Merkel ungefährdet Kanzlerin.

"Wiener Zeitung":Was wäre schlecht daran, wäre Angela Merkel auch nach 2017 Kanzlerin? Die SPD wirkt ganz zufrieden mit ihr.Gesine Schwan: Frau Merkel schadet mit ihrem Politikstil der Demokratie und dem Zusammenhalt der Europäischen Union.

Inwiefern?

Sie orientiert sich nicht an langfristigen Zielen, an Grundwerten oder auch an wohlverstandenen nationalen Interessen. Sie entscheidet immer wieder ad hoc, ohne zu bedenken, welche längerfristigen Konsequenzen daraus entstehen. Und da sie die Konsequenzen immer wieder einholen, versucht sie öffentliche und klare Debatten zu vermeiden, die in meiner Sicht zu einer funktionierenden Demokratie gehören. Außerdem versucht sie, verbal Widersprüchliches als Einheitliches darzustellen. In einer Demokratie geht es aber auch darum, Klarheit und Verständlichkeit zu sichern - die Klarheit von Alternativen und deren streitbaren Austrag.

Für Klarheit und Verständlichkeit steht aber auch SPD-Chef Sigmar Gabriel nicht. . .

Ich glaube, dass Sigmar Gabriel der Politikstil von Frau Merkel nicht von vornherein unsympathisch ist. Das heißt, Sigmar Gabriel entwickelt keinen demokratiepolitischen Widerwillen dagegen und findet diesen Stil der Kanzlerin, glaube ich, über Strecken nachahmenswert. Andererseits kann Gabriel durchaus argumentieren. Und seine Partei verlangt, ganz anders als die Konservativen, eigentlich Debatte, Argumentation und Theorie. Das ist die Tradition der SPD. Dem kann er sich nicht entziehen.

Wirklich?

Wenn man in der Exekutive ist, will man sich dem immer ein bisschen entziehen. Und der Schatten der mächtigen Kanzlerin ist sehr, sehr groß. Die SPD-Spitze traut sich nicht genug zu oder hat sich bisher nicht genug zugetraut, die Kanzlerin politisch herauszufordern.

Warum ist das so? Wegen der guten Umfragewerte für Merkel und die schlechten für die SPD?

Umfragen sind das eine. Aber zum Herausfordern gehört auch eine sehr grundsätzliche Überlegung zur Politik. Das ist nicht immer Sache der praktischen Politiker. Außerdem gibt es auch in der demokratischen Politik die Versuchung, den Menschen eher negative, unsolidarische Eigenschaften zu unterstellen als das Potenzial zum Positiven. Wenn Politik aber den Eindruck erweckt, dass sie sich nicht zutraut, Stimmungen oder Annahmen, die sie in der Bevölkerung mehrheitlich voraussetzt, infrage zu stellen, dann werden genau diese negativen Vorstellungen und Stimmungen befestigt. Die großen politischen Entscheidungen in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg sind von den Akteuren in der Regel in dem Bewusstsein getroffen worden, dass die Mehrheit der Gesellschaft (noch) nicht dafür war. Das gilt für Konrad Adenauer, dessen Hauptziel die Westbindung war. Er wollte vermeiden, dass Deutschland neutral wird und zwischen Ost und West hin- und herschwankt. Es gab sehr viele in Deutschland, die eher das zweite gewollt hätten - auch bei der SPD gab es große Neutralitätsversuchungen. Und Willy Brandt hat ganz klar in mehreren Anläufen für die neue Ostpolitik kämpfen müssen.

Welche Überzeugungen hat Sigmar Gabriel?

Er hat Überzeugungen. Aber ich glaube nicht, dass die Stetigkeit seiner Werteorientierung so ausgeprägt ist wie jene Willy Brandts. Seine Stärke war bisher nicht, seine sozialdemokratischen Motive kohärent umzusetzen. Und die akuten Zwänge, die für ihn als Parteiführer und Wirtschaftsminister nicht klein sind, nehmen ihn so in Beschlag, dass er die Frage der Längerfristigkeit einfach oft nicht bewältigt. Das ist sehr deutlich geworden bei der Griechenland-Politik. Deren langfristige Bedeutung einschließlich Syriza wollte er nicht zum Gegenstand seines Nachdenkens machen.

Warum? Weil er Angst hatte, in
die ganz linke Ecke gestellt zu werden?

Ja, das ist ihm unheimlich. Sozialdemokratie will gern kontrollieren, immer schon, und ist immer noch ganz stark auf traditionelle Staatsvorstellungen orientiert. Und alles, was heute sehr viel komplexer ist mit Governance und NGOs und Bürgerbewegungen, gilt bisher letztlich als dubios.

Und was ist mit dem Spitzenpersonal der Vergangenheit, etwa Egon Bahr und Helmut Schmidt, warum kommt das nicht so richtig in die Gänge?

Das ist eine Frage, die ich mir auch stelle. Denn auch deshalb wirkt die SPD im allgemeinen Verständnis so unattraktiv. Man hat nicht das Gefühl, da brodelt’s oder da kommt was, da kommen neue Ideen. Aber ich habe gerade in den letzten Wochen interessante Beobachtungen bei der sogenannten Basis gemacht. Da waren junge Leute, Sozialdemokraten, die sich bei Flüchtlingen engagieren und die hochintelligent sind, sprachfähig und flott denken. Man würde gar nicht meinen, dass es solche Typen in der SPD gibt. Aber es gibt sie. Und wenn das mehr in der Öffentlichkeit wäre, würde die Partei enorm profitieren. Im Übrigen haben wir in der Regierung durchaus überzeugende Sozialdemokraten.

Was man aber sieht, ist ein Vizekanzler, der nicht stark wirkt, auch wenn er polternd auftritt.

Interessante Unterscheidung. Man muss weniger heftig wirken, wenn man sich seiner Sache sicher ist.

Warum ist er das nicht? Er schwankt, auch in der Flüchtlingspolitik, und sagt zum Beispiel, die Menschen wollten sehen, "dass wir wieder Kontrolle über das Land zurückgewinnen".

Viele fordern das, und darauf will Gabriel antworten: Der Staat muss souverän sein, er definiert sich dadurch, dass er die Grenzen kontrollieren kann. Unsinn. Der Nationalstaat ist schon lange nicht mehr souverän. Schon lange nicht mehr. Das wissen wir doch: Wir hängen alle voneinander ab. Und jetzt plötzlich eine Unabhängigkeit eines in Europa und global integrierten Staates zu fordern - eine Art 17. Jahrhundert-Souveränität -, ist doch Wahnsinn. Dass sich Politiker auf dieses Glatteis zerren lassen, ist sehr schade. Wir sollten offensiv argumentieren: Die Interdependenz aller Staaten ist doch nicht Gabriels persönliche Schuld.

Warum macht Gabriel das nicht?

Ich glaube, Politiker trauen der Verständnisfähigkeit der Menschen zu wenig zu. Ich glaube, dass Menschen viel mehr verstehen können. Außerdem ist diese Argumentation unser aller Aufgabe. Und die Verführung von praktischer Politik liegt einfach in der Kurzfristigkeit. Die akut handelnden Politiker stehen heute unter sehr viel mehr Handlungsdruck als Adenauer und Brandt standen, auch wegen der Medien. Das Geschäft ist viel rauer geworden, viel schnelltaktiker, atemloser. Die Massenmedien haben vielfach für sich die Funktion definiert, selbst Politik machen zu wollen und nicht, wie das meiner Meinung nach wünschenswert wäre, Politik transparent machen zu wollen.

Wer soll die SPD eigentlich wählen?

Gabriel glaubt nicht, dass er Nichtwähler zurückgewinnt. Er baut darauf, Wähler aus dem CDU-Lager zu gewinnen. Das halte ich für falsch, es handelt sich um 22 bis 25 Prozent der Wähler. Diese Auseinandersetzung muss man führen. Gabriel ist aber leider zur Rede von der Mitte zurückgekehrt.

Auf welche Themen müsste die SPD setzen?

Wir sind unter der unverzichtbaren Voraussetzung von Freiheit auf Gerechtigkeit und Solidarität spezialisiert. Die Sozialdemokratie hätte auch viel mehr kämpfen müssen um den Begriff der Solidarität, den die Kanzlerin systematisch diskreditiert hat mit ihrem "Solidarität ist keine Einbahnstraße". So als ob Solidarität ein Gegengeschäft ist. Nein, das ist sie nicht. Wenn jemand richtig in der Kanne sitzt, dann muss man erstmal helfen. Unser Menschenbild sagt nicht: Wenn man Leuten hilft, werden sie noch fauler. Unser Menschenbild sagt: Wenn man Menschen hilft, wollen sie wieder allein auf die Beine. "Wenn man den Griechen hilft, machen die immer so weiter" - das darf eine Sozialdemokratie nicht akzeptieren. Weil das ihre Lebens- und Geschichtserfahrung ist. Da mögen in der Vergangenheit Fehler begangen worden sein - in Deutschland aber auch. Innenpolitisch muss auch die große Frage der Diskrepanz zwischen Arm und Reich noch stärker thematisiert werden.

Und wie?

Nicht, indem man einfach verkündet, Steuern erhöhen zu wollen. Sondern indem man sagt: Wir brauchen eine bessere Bildungs- und Wohnungsbaupolitik und eine Stabilisierung der sozialen Netze. Dafür brauchen wir Geld. Und wir brauchen vor allen Dingen eine ganz andere Europapolitik, da liegt der Schlüssel in Deutschland und hier wiederum bei der Sozialdemokratie - denn die Union wird sich nicht ändern. Die Sozialdemokratie könnte das. Da ist einfach nur die Angst vorm Wähler.

Zur Person

Gesine Schwan

ist Politikwissenschafterin und Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, die zum programmatischen Profil der Partei beitragen soll. 2004 und 2009 kandidierte Schwan für das Amt der Bundespräsidentin.