Schmidt: Ich befürchte, London hat sich in eine Sackgasse manövriert, jetzt gilt es, nach Ausgängen zu suchen. Ich finde, die absoluten Einwanderungszahlen sollten thematisch nicht mit dem freien Personenverkehr innerhalb der EU vermischt werden. In der öffentlichen Debatte passiert das leicht. Natürlich zieht ein offener Arbeitsmarkt die Menschen an. Aber sie kommen eben hauptsächlich, um zu arbeiten und nicht, um Sozialleistungen zu kassieren. Statistiken zeigen zudem, dass Zuwanderer mehr beitragen, als sie kosten. Die öffentliche Wahrnehmung ist leider oft anders. Darauf muss die britische Regierung reagieren. Allerdings wird ein Kompromiss scheitern, wenn er zwei der wichtigsten Prinzipien der EU untergräbt - den freien Personenverkehr und das Verbot der Diskriminierung von eingewanderten EU-Bürger im Vergleich zu den eigenen Staatsbürgern. Immerhin leben ja auch mehr als eine Million Briten in anderen EU-Ländern, da könnte es zu Dominoeffekten kommen. Großbritannien hat aber einigen nationalen Spielraum, doch statt diesen zu nutzen, dient die EU für London als Sündenbock.
Welche nationalen Spielräume sehen Sie?
Schmidt: Etwa hätte London zu Beginn der EU-Erweiterung Übergangszeiten einführen können. Hier in Österreich kann man drei Monate bleiben, dann müssen bestimmte Kriterien erfüllt werden. Arbeitnehmer und selbstständig Erwerbstätige aus der EU sind inländischen gleichgestellt. Ein Job kann sechs Monate gesucht werden. Für einen längeren Aufenthalt braucht man jedoch genügend finanzielle Mittel und eine Krankenversicherung. Werden diese Anforderungen nicht erfüllt, müssen sie wieder gehen. Auch auf EU-Ebene werden derzeit schwierige Themen besprochen, wie zum Beispiel Kindergeld, das in einem Land bezahlt und in ein anderes geschickt wird. National und im Bereich des Sekundär-Rechts gibt es also Spielraum, nicht aber beim Primär-Recht, also bei den Grundprinzipien der EU.
Le Jeune dAllegeershecque: Die Debatte über das Kindergeld zeigt, dass diese Themen nicht nur uns Briten beschäftigen, sondern auch andere Staaten und durchaus auch Österreich.
Schmidt: Das stimmt, aber die Diskussion ist doch ein wenig übertrieben. Die ausländischen Arbeiter sind ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und werden vom Arbeitsmarkt doch auch gebraucht. Auf die emotionale öffentliche Meinung sollte man mit Gegenargumenten und Fakten reagieren.
Die Mehrheit der Briten ist neuesten Umfragen zufolge für den Brexit. Cameron droht mitunter seinen Verhandlungspartnern, zuhause für ein Nein zu werben. Wird da ein interner britischer Konflikt auf EU-Ebene ausgetragen und was sagt uns das über die EU?
Le Jeune dAllegeershecque: Die Rolle Großbritanniens in der EU war schon immer eine ganz eigene: Unsere Insellage prägt auch unsere Beziehung zum Rest Europas. Und wir stellen meistens die unbequemen Fragen. Das freut eine Reihe anderer Länder, weil sie es dann nicht tun müssen. Aber Großbritannien war immer auch ein sehr konstruktives Mitglied der Union, zum Beispiel in der Außenpolitik. Der EU würde ohne uns einiges fehlen. Die Debatte ist sicher emotionaler als in anderen Ländern, aber die Themen beschäftigen alle EU-Staaten. In Österreich sind ähnlich viele Menschen EU-skeptisch - und bei manchen Themen sogar mehr als bei uns.
Schmidt: Es stimmt, dass der EU etwas fehlen würde. Aber Großbritannien würde noch viel mehr fehlen, wenn es die Union verlässt. Und richtig ist auch, dass hier ein nationales Thema auf die europäische Ebene verlagert wurde, weil man sich vor nationalen Lösungen gescheut hat. Damit steht Großbritannien aber nicht allein da, und das ist das große Dilemma der europäischen Integration, weil es eine effektive Politik auf europäischer Ebene unglaublich erschwert. Ich befürchte, dass die Idee des britischen Referendums nicht wirklich durchdacht ist, vielmehr entwickelt es sich zu einem äußerst riskanten Unterfangen: Großbritannien verknüpft seine Mitgliedschaft in der EU mit der Erfüllung von vier, teils sehr spezifischen Forderungen. Das ist für mich unverständlich. Die grundsätzliche Frage einer Mitgliedschaft sollte man nicht an Details aufhängen.
Le Jeune dAllegeershecque: Ja, es ist riskant, da haben Sie recht. Es besteht die Möglichkeit, dass die Mehrheit der Briten aus der EU austreten möchte. Persönlich bin ich überzeugt, dass wir von der Union profitieren und es wäre schrecklich, wenn wir diese verlassen müssten. Auf der anderen Seite wissen wir dann wenigstens, woran wir sind. Noch schlimmer als ein Referendum wäre nur, die ungeklärte Frage der britischen Mitgliedschaft weiter gären zu lassen: Europa muss verstehen, dass sich Großbritannien an einem neuralgischen Punkt befindet. Die britischen Bürger stimmen allerdings nicht zum ersten Mal über Europa ab, das wird unser drittes Referendum sein - und bis jetzt haben wir uns immer für die Europäische Union entschieden. Auch wenn es riskant ist, ist das Referendum unter diesen Umständen die einzige Möglichkeit. Da gibt es Parallelen zum schottischen Referendum, auch das war nötig.
Es mag vielleicht riskant sein, aber immerhin werden die Briten gefragt, wie es mit ihnen und der EU weitergehen soll. Das würden sich wahrscheinlich viele andere EU-Bürger auch wünschen, das Demokratiedefizit der Union ist unübersehbar.
Schmidt: Ich bin für Formen der direkten Demokratie, aber es muss nicht gleich die große Frage der Mitgliedschaft sein. Besser fände ich, über die Integrationsrichtung der EU abzustimmen oder über bestimmte Themen. Und wir sollten nicht vergessen: Der hauptsächliche Beweggrund für das britische Referendum ist die britische Innenpolitik.
Le Jeune dAllegeershecque: Das letzte Mal, dass wir diese große Frage gestellt haben, war vor vierzig Jahren. Der Vorteil eines In-/Out-Referendums ist, dass klar ist, worum es geht. Bei konkreten Sachthemen fehlt es den Bürgern oft an Detailinformationen. Als über den Vertrag von Nizza abgestimmt wurde, haben die meisten nicht verstanden, was genau gefragt wird.
Die Briten streben eine EU an, in der die nationalen Regierungen dominieren. Die Alternative ist eine supranationale Union. Gibt es hier einen Mittelweg?