"Wiener Zeitung":
Nach Jahren harter Sparpolitik ist immer noch jeder fünfte Spanier arbeitslos. Dutzende Politiker der regierenden Volkspartei (PP) sitzen wegen skandalösen Korruptionsaffären hinter Gittern. Trotzdem gelten die Konservativen als Favoriten für die Parlamentswahlen am Sonntag. Wie kann das sein?
José Pablo Ferrándiz:
Die Konservativen von Ministerpräsident Mariano Rajoy profitieren vor allem von einem Wahlsystem, das die großen Volksparteien bevorzugt, und dem Profil der Wähler. Die Konservativen werden generell von den über 55-Jährigen gewählt, die nicht nur aktiver an Wahlen teilnehmen als Jüngere. Sie sind auch eine Million mehr als vor vier Jahren, während die Gruppe der unter 35-Jährigen heuer eine Million weniger umfasst.
Die Pensionen wurden eingefroren, Steuern erhöht, hunderttausende Wohnungen zwangsgeräumt. Profitieren die Konservativen von einer sich ausbreitenden Alterssenilität in Spanien?
Natürlich nicht. Aber Rentner tendieren zu der Partei, die ihnen die Pensionen zahlt. Und gerade die älteren Wähler halten laut unseren Umfragen die Konservativen immer noch am fähigsten, die Wirtschaftsprobleme zu lösen. Tatsächlich hat der PP auch nicht alles falsch gemacht. Dank vieler Arbeits- und Finanzmarktreformen der Regierung ist Spanien das am schnellsten wachsende Land in der Eurozone und hat die Rezession hinter sich gelassen. Die Arbeitslosenquote sank um sechs Punkte auf 21 Prozent.
Nach den Wirtschaftsproblemen gehört zu den größten Sorgen der Spanier allerdings die Korruption.
Deshalb wird der Wahlsieg der Konservativen, sollten sie denn gewinnen, ein sehr bitterer werden. Laut unserer Prognose werden sie im Vergleich zu den vergangenen Wahlen 2011 fast die Hälfte ihrer Stimmen und bis zu 70 ihrer Abgeordneten verlieren. Die Korruption hat in den Spaniern generell den tiefen Wunsch nach einem "Wechsel" aufkommen lassen. Dieser ist mit dem zu erwartenden Triumph der jungen Protestparteien Podemos ("Wir können") und Ciudadanos ("Bürger") verbunden, die dem Zwei-Parteien-System ein Ende setzen werden.
Der jetzige Ministerpräsident Mariano Rajoy steht aber nicht gerade für den "Wechsel" und ist trotzdem Wahlfavorit?
Deshalb konzentrierte er seinen Wahlkampf auch auf seine Stammwähler und warnte geschickt zu Vorsicht vor politischen Experimenten in wirtschaftlich sensiblen Zeiten. Wie der sozialistische Oppositionsführer Pedro Sánchez warnt er vor der politischen Unerfahrenheit der liberalen Ciudadanos-Partei und den utopischen Wirtschaftsideen der linksextremen Podemos. Und die Sozialisten?
Die Sozialisten haben es nicht geschafft, sich als politische Alternative zu etablieren. Am Sonntag müssen sie mit dem schlechtesten Wahlergebnis ihrer Parteigeschichte rechnen und dürften nur knapp 21 Prozent der Stimmen erhalten.
Die liberalen Ciudadanos liegen laut Prognosen fast gleichauf mit den Sozialisten. Podemos ist mit 18 Prozent in den Umfragen auf Platz vier gefallen. Was ist mit Podemos passiert, die im Februar mit 28 Prozent laut Umfragen sogar noch als Wahlfavorit gehandelt wurde?
Anfangs wurden sie von den Medien gehypt und von den großen Volksparteien nicht ernstgenommen. Tatsächlich handelte es sich lange auch um eine massive Unterstützung aus Protest gegen die hiesigen Parteien. Ideologisch war und ist die aus der Empörten-Bewegung hervorgegangene Podemos für viele Spanier zu weit links. Danach machte der Formation von Pablo Iglesias vor allem das Scheitern der griechischen Schwesterpartei Syriza zu schaffen. So warnen Konservative und Sozialisten auch in der Kampagne immer wieder vor griechischen Verhältnissen, sollte Podemos an die Macht kommen. Und dann betraten auch noch die Ciudadanos die politische Bühne.
Genau. Plötzlich stand den mit den Volksparteien unzufriedenen Spaniern eine Partei zur Wahl, die sich ebenfalls für eine transparentere und bürgernähere Politik einsetzt und die Drehtüren zwischen Politik und Wirtschaft schließen will, dabei aber ideologisch akzeptabler ist und dem gleichen Ziel dient - der Abstrafung der beiden Volksparteien. Sie konnten aber auch viele Wähler auch mit einer Mischung aus liberal-konservativer Wirtschaftspolitik bei gleichzeitiger Reduzierung der sozial unverträglichen Maßnahmen der aktuellen Regierung überzeugen. Früher gab es keine politischen Alternativen und viele sagten sich, dann wähle ich zumindest die Korrupten, die mir ideologisch am nächsten stehen.
Aber es gab doch auch vor Ciudadanos und Podemos politische Alternativen?
Diese Parteien haben aber weder die Ideen noch die Kraft gehabt, das Zwei-Parteien-System aufzubrechen. Natürlich haben die jungen Protestparteien auch das Glück, in einer Wirtschaftskrise entstanden zu sein, in der die krisengebeutelte Bevölkerung sensibler für die politischen Missstände und die Korruption geworden ist. Sie steht für einen Neustart, für frischen Wind. Dennoch: Dass beim heutigen Wahlsystem und der Gesellschaftsstruktur junge Protestparteien, die zum ersten mal an Parlamentswahlen teilnehmen, beide aus dem Stand heraus auf fast 20 Prozent kommen, ist ein unglaublicher Erfolg, von dem Parteien wie die konservativere UPyD oder die Vereinte Linke bisher nur träumen konnten.