Zum Hauptinhalt springen

Zwei Alternativen zu den Bisherigen

Von Manuel Meyer

Politik
Wahlkämpfer bei der Arbeit: v.l. oben im Uhrzeigersinn: Rajoy, Iglesias, Sanchez, Rivera.
© Kalis, M.Vidal

Der spanische Wahlforscher José Pablo Ferrándiz über die Wut der Spanier auf die korrupten Volksparteien.


"Wiener Zeitung":Nach Jahren harter Sparpolitik ist immer noch jeder fünfte Spanier arbeitslos. Dutzende Politiker der regierenden Volkspartei (PP) sitzen wegen skandalösen Korruptionsaffären hinter Gittern. Trotzdem gelten die Konservativen als Favoriten für die Parlamentswahlen am Sonntag. Wie kann das sein?

José Pablo Ferrándiz:
Die Konservativen von Ministerpräsident Mariano Rajoy profitieren vor allem von einem Wahlsystem, das die großen Volksparteien bevorzugt, und dem Profil der Wähler. Die Konservativen werden generell von den über 55-Jährigen gewählt, die nicht nur aktiver an Wahlen teilnehmen als Jüngere. Sie sind auch eine Million mehr als vor vier Jahren, während die Gruppe der unter 35-Jährigen heuer eine Million weniger umfasst.

Die Pensionen wurden eingefroren, Steuern erhöht, hunderttausende Wohnungen zwangsgeräumt. Profitieren die Konservativen von einer sich ausbreitenden Alterssenilität in Spanien?

Natürlich nicht. Aber Rentner tendieren zu der Partei, die ihnen die Pensionen zahlt. Und gerade die älteren Wähler halten laut unseren Umfragen die Konservativen immer noch am fähigsten, die Wirtschaftsprobleme zu lösen. Tatsächlich hat der PP auch nicht alles falsch gemacht. Dank vieler Arbeits- und Finanzmarktreformen der Regierung ist Spanien das am schnellsten wachsende Land in der Eurozone und hat die Rezession hinter sich gelassen. Die Arbeitslosenquote sank um sechs Punkte auf 21 Prozent.

Nach den Wirtschaftsproblemen gehört zu den größten Sorgen der Spanier allerdings die Korruption.
Deshalb wird der Wahlsieg der Konservativen, sollten sie denn gewinnen, ein sehr bitterer werden. Laut unserer Prognose werden sie im Vergleich zu den vergangenen Wahlen 2011 fast die Hälfte ihrer Stimmen und bis zu 70 ihrer Abgeordneten verlieren. Die Korruption hat in den Spaniern generell den tiefen Wunsch nach einem "Wechsel" aufkommen lassen. Dieser ist mit dem zu erwartenden Triumph der jungen Protestparteien Podemos ("Wir können") und Ciudadanos ("Bürger") verbunden, die dem Zwei-Parteien-System ein Ende setzen werden.

Der jetzige Ministerpräsident Mariano Rajoy steht aber nicht gerade für den "Wechsel" und ist trotzdem Wahlfavorit?

Deshalb konzentrierte er seinen Wahlkampf auch auf seine Stammwähler und warnte geschickt zu Vorsicht vor politischen Experimenten in wirtschaftlich sensiblen Zeiten. Wie der sozialistische Oppositionsführer Pedro Sánchez warnt er vor der politischen Unerfahrenheit der liberalen Ciudadanos-Partei und den utopischen Wirtschaftsideen der linksextremen Podemos. Und die Sozialisten?
Die Sozialisten haben es nicht geschafft, sich als politische Alternative zu etablieren. Am Sonntag müssen sie mit dem schlechtesten Wahlergebnis ihrer Parteigeschichte rechnen und dürften nur knapp 21 Prozent der Stimmen erhalten.

Die liberalen Ciudadanos liegen laut Prognosen fast gleichauf mit den Sozialisten. Podemos ist mit 18 Prozent in den Umfragen auf Platz vier gefallen. Was ist mit Podemos passiert, die im Februar mit 28 Prozent laut Umfragen sogar noch als Wahlfavorit gehandelt wurde?

Anfangs wurden sie von den Medien gehypt und von den großen Volksparteien nicht ernstgenommen. Tatsächlich handelte es sich lange auch um eine massive Unterstützung aus Protest gegen die hiesigen Parteien. Ideologisch war und ist die aus der Empörten-Bewegung hervorgegangene Podemos für viele Spanier zu weit links. Danach machte der Formation von Pablo Iglesias vor allem das Scheitern der griechischen Schwesterpartei Syriza zu schaffen. So warnen Konservative und Sozialisten auch in der Kampagne immer wieder vor griechischen Verhältnissen, sollte Podemos an die Macht kommen. Und dann betraten auch noch die Ciudadanos die politische Bühne.
Genau. Plötzlich stand den mit den Volksparteien unzufriedenen Spaniern eine Partei zur Wahl, die sich ebenfalls für eine transparentere und bürgernähere Politik einsetzt und die Drehtüren zwischen Politik und Wirtschaft schließen will, dabei aber ideologisch akzeptabler ist und dem gleichen Ziel dient - der Abstrafung der beiden Volksparteien. Sie konnten aber auch viele Wähler auch mit einer Mischung aus liberal-konservativer Wirtschaftspolitik bei gleichzeitiger Reduzierung der sozial unverträglichen Maßnahmen der aktuellen Regierung überzeugen. Früher gab es keine politischen Alternativen und viele sagten sich, dann wähle ich zumindest die Korrupten, die mir ideologisch am nächsten stehen.

Aber es gab doch auch vor Ciudadanos und Podemos politische Alternativen?

Diese Parteien haben aber weder die Ideen noch die Kraft gehabt, das Zwei-Parteien-System aufzubrechen. Natürlich haben die jungen Protestparteien auch das Glück, in einer Wirtschaftskrise entstanden zu sein, in der die krisengebeutelte Bevölkerung sensibler für die politischen Missstände und die Korruption geworden ist. Sie steht für einen Neustart, für frischen Wind. Dennoch: Dass beim heutigen Wahlsystem und der Gesellschaftsstruktur junge Protestparteien, die zum ersten mal an Parlamentswahlen teilnehmen, beide aus dem Stand heraus auf fast 20 Prozent kommen, ist ein unglaublicher Erfolg, von dem Parteien wie die konservativere UPyD oder die Vereinte Linke bisher nur träumen konnten. Welche Rolle spielen dabei die charismatischen Parteiführer, der Liberale Albert Rivera von Ciudadanos und der Linke Pablo Iglesias von Podemos?

Eine sehr große. Vor allem die Ciudadanos profitieren von der Marke Rivera. Rivera ist Jurist, gerade einmal 36 Jahre alt. Iglesias ist nur ein Jahr älter, Politikprofessor. Beide sind gut ausgebildet und rhetorisch brillant.

Blieb der oftmals spröde wirkende, mit 60 Jahren wesentlich ältere Ministerpräsident Rajoy deshalb allen TV-Debatten mit den anderen Kandidaten fern?

Mit Sicherheit. Und damit war er auch gut beraten. Er wusste, dass er in den Debatten mehr verlieren als gewinnen konnte. Rivera und Iglesias repräsentieren den politischen Wechsel, den sich so viele Spanier wünschen. So wählte Rajoy auch mit dem Fernbleiben von den TV-Debatten die Strategie, den ideologischen näheren Gegner Albert Rivera politisch zu ignorieren und damit als nicht Ernst zu nehmenden Kontrahenten abzustempeln. Pedro Sánchez, der selber auch nur 43 Jahre alt ist, macht es ähnlich mit Podemos-Chef Pablo Iglesias. Und, geht die Strategie auf?

Nur teilweise. Vor allem die Ciudadanos, eine Partei, die 2006 in Katalonien als Gegenbewegung zum aufkommenden Separatismus entstand, gewinnt seit den katalanischen Regionalwahlen vom 27. September enorm an Sympathien. Da es sich um Wahlen handelte, die als eine Art Ersatz für das im vergangenen Jahr verbotene Unabhängigkeitsreferendum galten, war die Aufmerksamkeit auf Katalonien sehr groß. Zudem handelt es sich um eine der wirtschaftsstärksten Regionen Spaniens. Der Konflikt zwischen Rajoy und dem katalanischen Ministerpräsidenten Artur Mas war ein Dauerbrenner in den Medien. Ciudadanos konnte bei den Wahlen einen großen Sieg verzeichnen. Von einer kleinen Partei wurde sie nach dem separatistischen Mehrparteien-Bündnis Junts pel Si zweitstärkste Partei vor dem konservativen PP und damit Oppositionsführer in Barcelona

Podemos enttäuschte hingegen bei den katalanischen Regionalwahlen und blieb weit hinter den Erwartungen zurück.

Sie irrten sich im Kandidaten und im regionalen Markennamen. Pablo Iglesias konnte doch in der Endphase des Wahlkampfes wieder viel Terrain gutmachen. Während die anderen bei den diesmal vielen TV-Debatten die Wähler mit zu vielen makroökonomischen Wirtschaftszahlen, Wahlversprechen, aber auch aggressiven Anfeindungen untereinander langweilten, setzte Iglesias auf Emotionen und erinnert die Zuschauer immer wieder an die Korruptionsfälle und an die von der Regierung mit Steuergeldern geretteten Banken, die hinterher Hunderttausende Arbeitslose aus ihren Wohnungen schmissen, weil sie nicht mehr ihre Hypotheken bezahlen konnte.

Schlägt jetzt also die Stunde der Neuen?

Es bleibt abzuwarten, wie viele Stimmen sie wirklich bekommen und wie groß der Unterschied zwischen den Konservativen und Sozialisten wird. Aber alles weist darauf hin, dass einer der beiden eine Koalition mit einer der neuen Formationen eingehen muss. Dabei könnte es sowohl eine Koalition aus Konservativen und Ciudadanos sein oder Sozialisten und Podemos. Königsmacher werden aber wohl Ciudadanos, weil diese auch für die Sozialisten als Koalitionsalternative infrage kommen könnten. Ich bin mir aber sicher: Am Sonntag werden die Spanier nach den Wahlen zum ersten Mal in der spanischen Demokratie ins Bett gehen, ohne zu wissen, wer das Land regieren wird.

José Pablo Ferrándiz
(44) ist Soziologe und Wahlforscher am renommierten Meinungsforschungsinstitut Metroscopia in Madrid.