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Ein gespaltenes Land

Von Manuel Meyer

Politik

Am Sonntag wählt Spanien ein neues Parlament. Der Ausgang ist offen.


<p>Madrid. Es hätte ein Heimspiel werden sollen. Ministerpräsident Mariano Rajoy drehte seinen Wahlkampf-Spaziergang durch die Innenstadt Pontevedras. Hier, in Galizien, ist Rajoy zu Hause. Seine konservative Volkspartei (PP) darf bei den spanischen Parlamentswahlen am Sonntag mit einer großen Mehrheit der Stimmen rechnen.<p>Die Menschen jubeln ihm zu - bis ihm ein Jugendlicher mit der Faust direkt ins Gesicht schlägt. Rajoys Brille fliegt im hohen Bogen davon. Er taumelt.

<p>Die Aggression am Mittwochabend zeigt, wie aufgeladen die Stimmung gerade bei den Jugendlichen ist. Denn obwohl die Krise langsam als überwunden gilt und die Wirtschaft wieder wächst, spüren die Jugendlichen nur wenig davon. Weiterhin ist jeder zweite Jugendliche in Spanien arbeitslos.<p>"Das entschuldigt zwar nicht, was dieser Typ in Pontevedra getan hat. Aber manchmal hätte ich auch Lust, den Regierenden so richtig meine Meinung zu sagen", sagt Daniel Melcón. Der 18-jährige Spanier studiert in Madrid Journalismus und wählt am Sonntag zum ersten Mal. "Ich werde die Sozialisten PSOE wählen. Sie wollen den Mindestlohn anheben, was gerade für uns Studenten interessant ist, und mehr ins Bildungs- und Gesundheitssystem investieren." Die Konservativen hätten bisher eine Politik für Banken und Unternehmen gemacht, nicht für Arbeitssuchende.<p>"Wie kann man die Konservativen nach all den ganzen Korruptions- und Parteispendenskandalen überhaupt noch wählen?", fragt sich auch Hugo Alonso. Der 33-Jährige unterhält einen Friseursalon in der spanischen Hauptstadt. Früher hat er immer die Sozialisten gewählt. Aber diesmal wird er der neuen linken Protestpartei Podemos (Wir können) seine Stimme geben. Warum? "Weil wir in Spanien endlich eine politische Erneuerung brauchen. So wie bisher kann es nicht mehr weitergehen", sagt Alonso.<p>Als selbständiger Unternehmer könne er sich zwar von einer Partei wie Podemos nicht viele Vorteile erhoffen. "Aber mit den Altparteien lief es bei mir auch nicht viel besser. Beide versprachen eine Politik für Firmengründer. Doch Subventionen oder Kredite zu bekommen, war für mich bisher unmöglich." In Podemos sehe er das "Versprechen, die Dinge anders als bisher zu machen". Es sei ein historischer Moment, der Spanien die Chance gibt, eine "neue politische Kultur zu etablieren, die dringend notwendig ist", sagt Hugo Alonso.<p>Von den Sozialisten ist er enttäuscht. Zwar gefällt ihm der neue und mit 43 Jahren noch junge Parteivorsitzende Pedro Sánchez. Aber dessen TV-Duell mit Mariano Rajoy habe Alonso gezeigt, dass auch die Sozialisten in der Vergangenheit hängengeblieben sind: ewig gleiche Rezepte, Politik der alten Schule.<p>

Wütend über Korruption

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Es waren jedoch vor allem die jüngsten Korruptionsskandale innerhalb der großen Volksparteien, die Hugo und viele andere Spanier in die Arme der neuen Protestparteien getrieben haben. Korruption gab es zwar schon immer. Nach Jahren sozial unverträglicher Spar- und Reformpolitik und hoher Arbeitslosigkeit wollen die Spanier diese aber nicht mehr akzeptieren.<p>Die Folge: Jetzt müssen sich Konservative und Sozialisten, die sich seit vierzig Jahren an der Macht abwechseln, plötzlich mit neuen, jungen Parteien messen, die für mehr politische Transparenz eintreten. Das bevorstehende Ende des Zwei-Parteien-Systems löst ohne Zweifel bei vielen Euphorie aus. Jüngste Umfragen gehen am Sonntag von einer historischen Wahlbeteiligung von bis zu 80 Prozent aus.<p>Eine knappe Mehrheit wird wohl noch mal für die konservative Volkspartei Rajoys stimmen. Mit - je nach Umfrage - bis zu knapp 28 Prozent dürfen sie aber nur noch auch die Hälfte ihrer bisherigen Mandate hoffen. Die Sozialisten könnten mit knapp 21 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis bei Parlamentswahlen erwarten. Dicht darauf folgen die neuen Parteien. Ciudadanos könnten aus dem Stand 19 oder 20 Prozent der Stimmen erreichen, die linke Podemos, eine Art Schwesterpartei der griechischen Syriza, immerhin 18 bis 19 Prozent.<p>

Ein Heer von Unentschlossenen

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Derzeit versuchen die Parteien alles, um vor allem die vielen Unentschlossenen für sich zu gewinnen. "30 bis 40 Prozent der Spanier wissen immer noch nicht, wem sie ihre Stimmen geben sollen", versichert Meinungsforscher José Pablo Ferrándiz.<p>Selbst konservative Wähler wollen Rajoys PP für die Korruptions- und Parteispendenskandale abstrafen. Sie trauen sich aber nicht, ihre Stimme den liberal-konservativen Ciudadanos zu geben, falls diese eine Koalition mit den Sozialisten eingehen. Für unzufriedene sozialistische Wähler ist Podemos dann doch zu linksextrem.<p>Gerardo Oliveira schwankte lange zwischen der PP und Ciudadanos. Schließlich hat sich der 46-jährige SAP-Berater allerdings entschieden, am Sonntag die Konservativen zu wählen. Der Grund: "Ich glaube, Rajoy hat das bessere Team und die besseren Lösungen, die Probleme des Landes, vor allem die wirtschaftlichen, zu lösen." Ciudadanos habe zwar auch gute Ansätze - gerade im Arbeitsmarktbereich. "Aber ich befürchte, dass die Sozialisten bei einem nur knappen Sieg der Konservativen eine Regierungskoalition mit Podemos eingehen könnten. Um das zu verhindern, will ich einen starken PP."<p>Sollten Ciudadanos zweit- oder drittstärkste Partei werden, würde Oliveira das begrüßen, denn so könnten sie die Konservativen in einer Koalition oder mit einer parlamentarischen Unterstützung zumindest kontrollieren. Denn auch er habe sich über die Korruptionsfälle in der Regierungspartei geärgert. "Aber Rajoy hat bereits Maßnahmen ergriffen und Gesetze verabschiedet, um die Korruption generell in der spanischen Politik zu bekämpfen. Er räumt den Laden auf", ist sich Oliveira sicher.<p>

Schreckgespenst Venezuela

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Auch Feliciano de la Cal wird am Sonntag die Konservativen wiederwählen. "Rajoy hat seinen Job bisher gut gemacht und wenn ich die Alternativen sehe, wird mir ganz anders", so der 85-jährige Pensionist. Vor allem die Linksextremen von Podemos machen ihm Angst. "Die hören eher auf Nicolás Maduro in Venezuela als auf Angela Merkel."<p>Juan Carlos Martínez Lázaro von der Madrider IE Business School muss dem Rentner in großen Bereichen recht geben. Die anfänglichen Reformvorschläge von Podemos seien vollkommen "utopisch und gefährlich" für ein Land in Rezession gewesen. "Wie soll Spanien mit einer Staatsverschuldung von 100 Prozent und einer Arbeitslosenquote von 21 Prozent einen Mindestlohn von 950 Euro im Monat garantieren und das Renteneintrittsalter auf 60 Jahre reduzieren können?", fragt sich der Wirtschaftsexperte.<p>Viele dieser Vorschläge habe Podemos zwar wieder zurückgenommen, aber auch in den neuen, die allesamt mehr Investitionen in die Sozial- und Bildungspolitik vorsehen, werde nicht einmal gesagt, wie man das finanzieren möchte. "Auch die Vorschläge der Sozialisten, die den Mindestlohn erhöhen und Steuern bei gleichzeitiger Erhöhung der Ausgaben im Bildungs- und Gesundheitswesen senken wollen, erklären nicht die Finanzierungsmöglichkeiten", so Martínez Lázaro. Dem PP bescheinigt er hingeben gute Arbeit - auch wenn die Arbeitsmarktreform bei weitem nicht zufriedenstellend sei.<p>

Rajoy übernahm schweres Erbe

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Die meisten der neuen Jobs sind Teilzeitbeschäftigungen mit Minimallohn. Die Regierung habe allerdings ein schweres wirtschaftliches Erbe von den Sozialisten übernommen. Die Krise war im vollem Gange. "In dieser Situation mussten zuerst die Unternehmen auf Kosten der Arbeiterrechte gestärkt und wettbewerbsfähiger gemacht werden." Der Effekt aber sei bereits zu sehen. Die Wirtschaft erholt sich, die Rezession ist überwunden. "Heute werden 1500 Stellen pro Tag geschaffen, nicht gestrichen", sagt Martínez Lázaro.<p>Das könnte Rajoy und seinen Konservativen am Sonntag erneut den Sieg bringen. Ob sie deshalb aber auch wieder regieren, bleibt abzuwarten. Spanien ist politisch so gespalten wie nie zuvor.