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Merkels Nebenwirkungen

Von Alexander Dworzak

Politik
Argwöhnisch beäugt Kanzlerin Merkel den Erfolg des grünen Ministerpräsidenten Kretschmann.

Die Flüchtlingskrise stellt alle regionalen Themen vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg in den Schatten. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann spricht moderate CDU-Wähler an, die AfD enttäuschte Konservative.


Stuttgart/Wien. 58 Jahre lang regierte die CDU in Baden-Württemberg. Bis 2011. Seitdem, auch als Folge der Proteste um den Bahnhof "Stuttgart 21", ist erstmals ein Grüner Ministerpräsident eines deutschen Bundeslands. Am 13. März stellt sich die grün-rote Koalition unter Winfried Kretschmann der Wiederwahl. Zeit für die CDU, die für sie "natürliche Ordnung" im Südwesten wiederherzustellen. Ob es dazu kommt, ist aber höchst ungewiss: Regionale Themen spielen derzeit eine völlig untergeordnete Rolle, alles dreht sich um die umstrittene Flüchtlingspolitik von CDU-Kanzlerin Angela Merkel.

Auch die Landeshauptstadt Stuttgart hatte zu Silvester ihren "Köln-Moment"; 17 Sexualdelikte wurden angezeigt. Straffällige Zuwanderer hätten "ihr Bleiberecht verwirkt", sagte daraufhin Ministerpräsident Kretschmann. Für einen grünen Bundespolitiker wären das ungewöhnliche Töne, bei dem 67-Jährigen sind sie Alltag. "Kretschmann verfolgt seit Monaten einen inhaltlichen Dreiklang: Er sagt, ganz im Sinne von Merkel, wir schaffen das. Wer aber keine Bleibeperspektive hat, vor allem Flüchtlinge aus den Balkan-Staaten, soll möglichst schnell zur Rückkehr bewegt werden. Der dritte Aspekt, Straffällige abzuschieben, ist seit den Ereignissen der Silvesternacht in den Vordergrund gerückt", sagt Frank Brettschneider, Professor für Kommunikationswissenschaft und Wahlforscher an der Universität Hohenheim in Stuttgart.

Mit dieser Haltung bringt Kretschmann die Christdemokraten in Bedrängnis. "In der Landes-CDU halten sich Traditionalisten und Modernisierer - zu ihnen zählt auch EU-Kommissar Günther Oettinger - die Waage. Dadurch gibt es viele Kritiker an Merkels Flüchtlingspolitik, die bis hin zu einigen Bundestagsabgeordneten aus dem Bundesland reicht. CDU-Spitzenkandidat Guido Wolf kann sich natürlich nicht gegen die eigene Kanzlerin wenden, aber auch die Kritiker nicht ausblenden", erklärt Brettschneider gegenüber der "Wiener Zeitung".

Kretschmann punktet derweil bei Merkel-treuen Wählern der CDU: Laut aktueller Umfrage von Infratest dimap würden derzeit 28 Prozent für die Grünen stimmen - bundesweit sind es nur 10 Prozent. Die lavierende CDU liegt zwar mit 35 Prozent an erster Stelle, gemessen am Selbstanspruch der Partei sind das jedoch katastrophale Werte. Noch dazu ist Spitzenkandidat Guido Wolf farblos und unbekannt.

Während Kretschmann seinem Konkurrenten Wolf moderat-konservative Wähler abspenstig macht, wildert die Alternative für Deutschland (AfD) im Revier der nationalkonservativen CDU-Sympathisanten. Bisher vor allem in Ostdeutschland stark, erreicht die AfD dank ihrer prononcierten Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik zehn Prozent der Stimmen in Baden-Württemberg. In Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz kommt die AfD gar auf 15 beziehungsweise auf 8 Prozent. Dort wird ebenfalls Mitte März gewählt, und ebenso dominiert die Flüchtlingsdebatte, während regionale Themen fast keine Rolle spielen.

Einen "sofortigen Stopp der chaotischen und unlimitierten Zuwanderung" fordert Baden-Württembergs AfD-Vorsitzender Jörg Meuthen. Im Mai, vor Beginn der Flüchtlingskrise, infolge derer 1,1 Million Menschen 2015 nach Deutschland kamen, dümpelte die AfD um vier Prozent. Doch nicht nur enttäuschte Konservative finden hier eine neue politische Heimat. Wahlforscher Brettschneider erinnert daran, dass es in Baden-Württemberg ein stabiles Segment an rechtspopulistischen Wählern gibt: So erreichten die "Republikaner" 10,9 beziehungsweise 9,1 Prozent der Stimmen bei den Landtagswahlen 1992 und 1996.

Um die "Republikaner" nicht hoffähig zu machen, verweigerte die CDU damals eine Koalition. Heute schließen CDU, SPD, Grüne und FDP aus, dass sie eine Regierung mit der Alternative für Deutschland bilden werden. "Fremdenfeindliche und rassistische Leute" sieht Ministerpräsident Kretschmann in den Reihen der AfD. Er lehnt sogar gemeinsame TV-Diskussionssendungen mit Vertretern der AfD ab, wie auch die Sozialdemokraten.

Kretschmanns Stärke macht Grün-Rot II schwierig

Die Abgrenzung der arrivierten Parteien macht jedoch die kommende Regierungsbildung schwierig. Und ausgerechnet die Stärke des Ministerpräsidenten könnte die Neuauflage von Grün-Rot unmöglich machen. Denn neben Kretschmann verblasst SPD-Chef Nils Schmid, der Finanz- und Wirtschaftsminister ist. Die Sozialdemokraten, 2011 mit 23,1 Prozent fast gleichauf mit den Grünen, sind in Umfragen auf 15 Prozent abgestürzt. "Die SPD hat gleich drei Probleme: Ihr klassisches Thema Sozialpolitik spielt auf Landesebene keine große Rolle. Anders die Bildungspolitik: Neben der Flüchtlingspolitik ist dort die Unzufriedenheit mit der Regierung am größten, etwa in Sachen Gemeinschaftsschule. Ausgerechnet dieser Zankapfel liegt in der Verantwortung eines SPD-Ministers. Und drittens den wenig zugkräftigen Spitzenkandidaten", fasst Frank Brettschneider das Dilemma der SPD zusammen.

Der Wahlforscher sieht daher vier Koalitionsoptionen: Eine sichere Mehrheit hätte Schwarz-Rot, allerdings wäre es wohl eine Regierung der Wahlverlierer. Schwarz-Grün ginge sich rechnerisch ebenfalls bestimmt aus. Die CDU wird Kretschmann aber nicht zum Ministerpräsidenten machen, sondern will das Amt selbst ausüben. Neben Grün-Rot besteht noch die Chance auf eine Ampelkoalition, sofern die liberale FDP den Einzug in den Stuttgarter Landtag schafft.