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Das strauchelnde Pferd

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Bisher sah Premier Cameron im Referendum über EU-Austritt kein größeres Problem, aber langsam kommt Panik auf.


London. So hatte sich das David Cameron ganz und gar nicht vorgestellt, mit seinem Referendum. Die Volksabstimmung zur weiteren britischen EU-Zugehörigkeit schien dem Briten-Premier kein größeres Problem.

Nach der Bekanntgabe der Reform-Zugeständnisse, die ihm die EU-Partner nun offenbar machen wollen, hatte Cameron mit einer Welle des Zuspruchs in der britischen Bevölkerung und in der eigenen Partei gerechnet. Zum entscheidenden EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag dieser Woche in Brüssel wollte er als erfolgreicher Reformer anrücken, als Willensträger der britischen Nation.

Stattdessen muss er ängstlich über seine Schulter schauen. Spott und Hohn seiner Hinterbänkler verfolgen ihn ob seines "lausigen" Deals. Mehr konservative Abgeordnete als noch vor ein paar Wochen - mindestens ein Drittel der Fraktion - wollen sich jetzt gegen den Verbleib in der EU einsetzen. Außerdem rumort es an der Parteibasis. Immer mehr Ortsverbände begehren gegen die für Freitag erwartete Vereinbarung und gegen ihren Parteichef auf.

Selbst Parteigrößen wie der Londoner Bürgermeister Boris Johnson finden, dass Cameron mit seiner Verhandlungsstrategie "noch nicht genug erreicht" habe "in Europa". Und nicht nur das. Das Finanzministerium spielt, wie man hört, in aller Eile Notmaßnahmen für den "Fall der Fälle" durch. Im vorigen Monat noch hielt Schatzkanzler George Osborn so etwas für nicht erforderlich.

Auch die Großbanken in London beginnen sich Sorgen zu machen. Das Pfund hat in den vergangenen Wochen schon verloren. Verunsichert sehen Londons Ökonomen einander an: Könnte es sein, dass sich die Regierung schlicht verrechnet hat? Dass Cameron auf ein Pferd gesetzt hat, das kurz vor dem Ziel strauchelt?

Für unmöglich hält das niemand mehr. 70 Prozent der Wettlustigen, die jetzt in die Wettbüros ziehen, setzen bereits auf ein Nein zur EU beim für Juni erwarteten Referendum. Das meldet das Unternehmen William Hill, das bisher noch einigermaßen gute Quoten für Großbritanniens Verbleib in der EU gegeben hat. Nicht mal die Wettbüros können ausmachen, woher der Wind wirklich weht.

Kein Wunder: Die Umfragen helfen auch nicht weiter. Seit der Enthüllung des Reformpakets für die Briten durch EU-Ratspräsident Donald Tusk vor knapp zwei Wochen hat ein leichter Trend Richtung Austritt die Unsicherheit eher noch erhöht. Die jüngste Umfrage des ICM-Instituts geht von einer 50-50-Situation aus. YouGov, ein anderer Meinungsforscher, meldet 56 Prozent für Austritt und 44 Prozent für Verbleib, bei Ausschluss der Unentschiedenen. Zu diesem Zeitpunkt, wenige Monate vor dem möglichen Entscheidungs-Datum, hatte Cameron auf einen klaren Vorsprung der EU-Befürworter gehofft.

Zutiefst besorgte Töne

"Echte Panik" schleiche sich plötzlich ein in Regierungskreisen, hat zum Wochenende der Tory-Abgeordnete Steve Baker aus einem Gespräch mit einem ungenannten Minister geschlossen. Zwar ist Baker selbst parteiisch, er führt die Austrittsbewegung mit an. Aber das Gefühl, dass Cameron "ins Schwimmen gekommen" sei, teilen auch andere. Ein kurzfristig abgesagtes Treffen mit den Fraktionschefs im EU-Parlament will Cameron am Dienstag nun doch wahrnehmen.

Sogar aus Washington sind neuerdings zutiefst besorgte Töne zu hören.US-Präsident Barack Obama werde den Briten in Kürze unmissverständlich erklären, warum Amerika sie in der EU und nicht außerhalb sehen wolle, berichtete am Samstag der "Guardian" unter Berufung auf den Sprecher des Auswärtigen Ausschusses des US-Senats, Bob Corker. Das Blatt deutete diesen Plan einer demonstrativen White-House-Geste als Zeichen für wachsende Ängste in Washington, "dass das britische EU-Referendum ein gefährliches Spiel ist, das schieflaufen könnte - mit katastrophalen Folgen für den ganzen Kontinent".

Noch mögen die EU-Befürworter in Politik und Wirtschaft in London nicht glauben, dass es tatsächlich so weit kommen könnte. Wenn erst Cameron nach etwas dramatischem Zusatz-Geplänkel am Freitag in Brüssel seine "Reformen" festzurre und der Nation außerdem ein neues Gesetz zur Wahrung britischer Hoheit über alle EU-Belange beschere, werde auch die Stimmung in der Bevölkerung noch umschlagen, prophezeien Kommentatoren, die einen kühlen Kopf zu wahren suchen.

Vor allem rechnen Camerons Strategen damit, dass nach Abschluss der Verhandlungen mit der EU die dann beginnende Referendums-Kampagne sich nicht mehr um das Verhandlungsergebnis, sondern prinzipiell um all die Vorteile drehen wird, die sich nach Überzeugung Camerons aus der EU-Mitgliedschaft ergeben.

In diesem Sinne hat der Regierungschef in den vergangenen Tagen bereits kräftig die Trommel gerührt. Zum Beispiel hat er davor gewarnt, dass ein Ende der britischen EU-Zugehörigkeit mordlustigen Islamisten Terror-Operationen im Vereinigten Königreich und Flüchtlingen wie denen in Calais den Zugang zu England erleichtern würde.

Bei seinem letzten großen Auftritt vor dem EU-Gipfel, am Freitagabend in Hamburg, beschwor der Brite außerdem Einheit und Zusammenarbeit der EU gegenüber "Aggressoren" wie Russland, Nordkorea und dem IS. Kriege er seine Reformen, werde er sich "rückhaltlos" für die EU einsetzen, sagte Cameron.

Keine Brexit-Führungsfigur

Tatsächlich ist das britische Nein-Lager gar nicht so stark, wie es den Anschein hat. Mehrere rivalisierende Gruppen streiten bitter um die richtige Exit-Wahl. Und kein wirklich prominenter Politiker hat sich bisher als Führungsfigur für die kommende Kampagne angedient.

Grummelnd müssen sich die vier, fünf Anti-EU-Minister im Kabinett mit ihrer Meinung zurückhalten, bis der "Deal" in Brüssel wirklich geschlossen ist - während der Premier schon fröhlich für die EU zu Felde zieht. Selbst die "Rebellen" aber, allen voran der Minister fürs Unterhaus, Christopher Grayling, sind keine großen Kommunikatoren. Sie versprechen wenig Inspiration.

Der Einzige, dem ein echter Einfluss auf die öffentliche Meinung zugesprochen wird, hat sich bislang aus rein taktischen Gründen in Schweigen gehüllt. Londons Bürgermeister Johnson, dem es vor allem um seinen eigenen Weg nach No. 10 Downing Street geht, scheint noch unschlüssig zu sein, welche Seite er unterstützen soll.

Diese Woche wird sich der weithin populäre "Boris" entscheiden müssen, ob er seinem alten Eton- und Oxford-Kompagnon "Dave" zur Seite treten will - oder ob er sich, in Erwartung eines Nein-Votums, lieber doch zur Lokomotive der EU-Gegner machen möchte. Beide Seiten hoffen jedenfalls auf seine Unterstützung. Meinungsforscher sind davon überzeugt, dass Johnson 10 Prozent der Bevölkerung dafür gewinnen könnte, es ihm gleichzutun.