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"Europa 2.0 ist denkbar"

Von Heike Hausensteiner

Politik
"Schweizer sind nicht an sich fremdenfeindlich": Baudenbacher erklärt das Wahlverhalten seiner Landsleute.
© privat

Efta-Gerichtshofpräsident Carl Baudenbacher plädiert für ein "Europa 2.0" mit einem Binnenmarkt als gemeinsamem Nenner.


"Wiener Zeitung": Die Schweiz hat seit zwei Monaten einen neuen Bundesrat. Die nationalkonservative SVP hat bei den Parlamentswahlen fast 30 Prozent der Stimmen erhalten. Spielt Ihr Land in der Europapolitik mit dem Feuer?Carl Baudenbacher: Mit dem europapolitischen Feuer spielt die Schweiz seit der Ablehnung des EWR 1992 (die EWR ist eine vertiefte Freihandelszone zwischen der EU und der Europäischen Freihandelsassoziation Efta, Anm.). Die bilateralen Verträge mit der EU sind eine unsichere Angelegenheit, man hangelt sich wie Tarzan von Liane zu Liane. Da es keinen übergeordneten Gerichtshof gibt, fehlt es an Rechtssicherheit. Neue Marktzugangsabkommen, etwa beim Stromhandel, will die EU nur eingehen, wenn die Schweiz einen übergeordneten Überwachungs- und Gerichtsmechanismus akzeptiert.

Eine Lösung sollte sich doch finden lassen. Alle anderen Staaten, ob in EU oder Efta, unterziehen sich dieser Kontrolle. Verspürt man in Bern Aufwind für den Sonderweg durch das Ausscheren Londons?

Bestimmte Leute hoffen, im Kielwasser der Briten segeln zu können. Ich halte das aber für wenig realistisch. Die EU unterscheidet sehr genau zwischen Mitgliedstaaten, Zweitstaaten wie Norwegen, Island und Liechtenstein und dem Drittstaat Schweiz. Ob die EU Großbritannien substanzielle Zugeständnisse machen wird, ist offen, und ob das der Schweiz etwas nützen würde erst recht. Zur Frage der Kontrolle: Die EU hat der Schweiz einen EWR-Beitritt oder ein "Andocken" an die Efta-Überwachungsbehörde und den Efta-Gerichtshof vorgeschlagen. Damit wäre das Überwachungs- und Gerichtsproblem gelöst. Da die Regierung sich dazu bisher nicht entschließen konnte, hat sie der EU den EuGH, das Gericht der Gegenseite, als Streitschlichter vorgeschlagen. Man glaubt, nach einem negativen Urteil des EuGH weiterverhandeln zu können- eine Illusion. Erfahrungsgemäß trägt diese Politik zur kritischen Haltung der Bevölkerung auch in anderen Europa-Dossiers bei.

Die Schweizer Regierung hat seit der Annahme der entsprechenden Initiative 2014 den Verfassungsauftrag, Maßnahmen "gegen Masseneinwanderung" zu treffen. Geht das ohne Bruch des Personenfreizügigkeitsabkommens mit der EU?

Wohl kaum. Man will nun einseitig Beschränkungen einführen - ein weiteres Beispiel für das Spiel mit dem Feuer. Ich sehe hier keine Lösung. Denn wenn die Personenfreizügigkeit fällt, sind weitere Marktzugangsabkommen gefährdet. Am besten würde man noch einmal über die entsprechende Initiative abstimmen, sie wurde ja nur mit einem Zufallsmehr angenommen. Das Schweizer Volk ist nicht an sich fremdenfeindlich, aber die Regierung hat die Risiken der Initiative unzulänglich erklärt. Es gibt allerdings noch eine Gefahr. Am 28. Februar stimmen die Schweizer über die "Initiative zur Durchsetzung der Ausschaffung krimineller Ausländer" ab. Damit soll den Gerichten die Kompetenz zur Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips genommen werden. Das ist mit der Menschenrechtskonvention unvereinbar.

Kann die EU am Management von gut 1,5 Millionen Flüchtlingen oder der Wirtschaftskrise zerbrechen?

In der Flüchtlingsfrage kenne ich mich zu wenig aus, um Ihre Frage schlüssig zu beantworten. Ich glaube aber, dass zum Teil übertrieben wird. Es bestehen allerdings auch im Wirtschaftsrecht Brüche. Wenn es um freie Märkte, Wettbewerbsfreiheit, Eigenverantwortung, Haftung und ganz allgemein um das Menschenbild geht, gibt es Anzeichen dafür, dass bestimmte EU-Staaten der liberalen Efta näher stehen als anderen EU-Staaten. Der wirtschaftliche Erfolg der Schweiz hängt eher mit dem Fehlen eines hegelianischen Staatsmodells zusammen.

In Österreich hat die Griss-Kommission, deren Mitglied Sie waren, der Regierung vorgeworfen, die Hypo ohne Not verstaatlicht zu haben. Die Kommission hat, anders als die Nationalbank, auch verneint, dass die Hypo "too big to fail" war.

Bei der "too big to fail"-Frage haben wir uns zurückgehalten. Immerhin hat die "Neue Zürcher Zeitung" unsere Kommentare als Kritik an der Schlussfolgerung der Nationalbank interpretiert. Ein wichtiger Punkt unseres Berichts befasste sich aber mit der Tatsache, dass mit den Landeshaftungen ein moralisches Risiko bestanden hat. Mit anderen Worten hat sich niemand verantwortlich gefühlt. Was die Entscheidung zur Verstaatlichung der Hypo anlangt, so konnte keiner der damals Handelnden aufzeigen, dass Alternativen erörtert wurden. Das ist ein Fehler. Im Übrigen bin ich der Auffassung, dass bei der EU-Bankenunion eine Sozialisierung der Verluste droht. Im Gegensatz dazu ist der Efta-Gerichtshof im Fall der isländischen Online-Bank Icesave vom Grundsatz ausgegangen, dass primär die Gläubiger, welche die Gewinnchance hatten, haften und nicht die Steuerzahler. In einer Marktwirtschaft muss das das Grundprinzip sein.

Könnte die EU durch die Bildung einer "Wirtschaftsregierung" aus der Krise finden?

Für die Mitgliedstaaten, die in Richtung einer politischen Union voranschreiten möchten, ist das vielleicht eine Option. Ob die mitmachen wollen, deren Ziel die Wirtschaftsintegration ist, halte ich für fraglich. Hier könnte - ein wenig Fantasie vorausgesetzt - die Efta wieder ins Spiel kommen. Denkbar wäre ein Europa 2.0 mit EU 2.0 und Efta 2.0. Gemeinsamer Nenner wäre der Binnenmarkt. Aber ich betone, dass ich hier als Privatmann spreche.

Und warum sollte die EU bei einem solchen Plan mitmachen?

Vielleicht läge es im Interesse der EU, dass sich austrittswillige Staaten einer Organisation anschließen, die Teil des großen europäischen Binnenmarkts ist. Man könnte von einer Auffangfunktion sprechen. Eine Efta 2.0 müsste freilich weit über die alte Efta, der auch Österreich angehört hat, hinausgehen und ein Überwachungsorgan sowie einen Gerichtshof haben. Sie wäre breiter anzulegen als die gegenwärtige, aus Island, Liechtenstein und Norwegen bestehende, EWR/Efta.

Die Europäische Freihandelszone (Efta) wurde 1960 auf Initiative Londons als Gegengewicht zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet. Ziel der Efta sind die Förderung von Wachstum und Wohlstand in ihren Mitgliedstaaten sowie die Vertiefung des Handels. Mit dem Übertritt Dänemarks und des Vereinigten Königreiches zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1973 verlor die Efta an Bedeutung gegenüber der EWG und später der EU. Seit 2001 ist die
Efta eine Freihandelszone ohne politische Zielsetzung, seit 1995 gehören ihr nur noch Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz an. Die EU und die Schweiz regeln ihr Verhältnis durch bilaterale Verträge.

EFTA

Zur Person

Carl Baudenbacher,

geboren 1947 in Basel, Schweiz, ist seit 1995 Richter am Efta-Gerichtshof und seit 2003 dessen Präsident. 1987 bis 2013 war der Jurist Professor an der Universität St. Gallen HSG. Von 1993 bis 2005 unterrichtete er als Permanent Visiting Professor an der University of Texas School of Law.