Zum Hauptinhalt springen

Mehr Punch für den Brexit

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Boris Johnson, der populäre Bürgermeister Londons, unterstützt den Austritt Großbritanniens. Die EU-Gegner erhalten dadurch immens starken Rückenwind.


London. Die "Outies" können ihr Glück nicht fassen. Nun haben sie, bei ihrer Kampagne zum Abzug aus der EU, eine der beliebtesten politischen Figuren der Insel an ihrer Spitze stehen.

Boris Johnson, der Tory-Bürgermeister von London, hat sich nach einigem Zögern entschlossen, zur "Leave EU"-Bewegung, zum Lager der Austrittswilligen, zu stoßen. Mit Johnson, mit einem Populisten seines Kalibers, sehen Britanniens EU-Gegner erstmals eine Chance für einen Sieg am 23. Juni, dem Referendumstag.

Seit "Boris", wie ihn alle Welt nennt, am Sonntagnachmittag in geübter Spontaneität aus dem Haus stolperte, um per Live-Übertragung auf allen Kanälen die Gründe für seine Entscheidung darzulegen, ist die nervöse Spannung im Königreich spürbar gestiegen. Johnson trauen seine Fans alles und seine Feinde das Schlimmste zu. Unverzüglich haben die britischen Wettbüros denn auch schon seit Sonntag ihre Quoten geändert. Auch sie halten jetzt das Auseinanderbrechen der EU für vorstellbar. Das Pfund fiel, vor allem gegenüber dem Dollar, binnen weniger Stunden. So viel Einfluss, dass es bereits konkrete Folgen hat, spricht man Johnson zu.

Er selbst, ganz das Unschuldslamm, kann die Aufregung kaum verstehen. Auch außerhalb der EU sei seinem Land ja "eine glänzende Zukunft beschieden", versichert er der Nation. Ganz absurd findet er den Verdacht, er wolle die "historische Entscheidung" nur dazu benutzen, sich selbst in die Downing Street, auf den Chefsessel, zu katapultieren.

Darum gehe es "überhaupt nicht", beteuert Boris Johnson. Er habe "jahrelang" mit sich darum gerungen, wie er sich entscheiden solle. Das glauben ihm manche seiner Bekannten, die darauf verweisen, dass er über die Jahre mal Ja und mal Nein zum Verbleib in der EU gesagt hat. Die meisten Kommentaren aber sind sich einig: Boris, meinen sie, gehe es vor allem um Boris - nicht um die Zukunft des Vereinigten Königreichs oder der EU.

Die Furcht Camerons vor seinem Eton-Mitschüler, Oxford-Kommilitonen und ewigen Tory-Rivalen bei diesem neuen Zusammenprall ist dabei nur allzu verständlich. Johnson, seit fast acht Jahren Bürgermeister der größten Stadt Westeuropas, ist ein regelrechter Publikumsmagnet.

Wochenlang hat der Premier, der am Montag das Unterhaus über den EU-Gipfel vom Wochenende informierte, gehofft, Johnson ins Pro-EU-Lager herüberzuziehen. Er verschaffte ihm schon nach den Unterhauswahlen im letzten Mai einen Posten - ohne ministerielle Verpflichtungen - im erweiterten "politischen Kabinett" seiner Regierung. Er empfing ihn, noch letzte Woche, zu Privataudienzen. Er bot ihm einen Top-Posten für die Zeit nach dem Referendum an.

Johnson aber textete "Dave" zwanzig Minuten, bevor er vor die Kameras trat, dass es mit einer gemeinsamen Front in der Referendumsschlacht leider nichts werde. Solche Kapriolen, die sich sonst niemand erlauben würde, tragen dem wuschelhaarigen Volkstribun weithin schmunzelnde Bewunderung ein.

Mit seinem gepflegten Akt des politischen Tolpatschs, mit respektlosem Humor und charmantem Gebrabbel hat sich der 51-Jährige einen hohen Grad an Zuneigung bei seinen Landsleuten, bis weit hinein ins Labour-Lager und in die jugendlichen Schichten, verschafft. Wie kalkuliert er auch handelt, die Leute halten ihn für witzig und "authentisch". Den "Heineken-Tory" nennt man ihn in London respektvoll: Weil er Teile der Wählerschaft "erfrischt", die andere Politiker nicht erreichen können.

Da mag "Dave", in seinem endlosen Bemühen um ein freundliches Nicken der Parteirechten, Dinge sagen wie: "Ich liebe Brüssel nicht. Ich liebe Britannien." Spielerisch leicht setzt sich "Boris" davon ab. "Ich liebe Brüssel durchaus", lacht Johnson. "Ich hab da ja mal gelebt. Ich liebe Europas Kultur und Zivilisation." Er habe absolut nichts gegen den Kontinent, mit seinen kulinarischen Genüssen und herrlichen Urlaubsorten. "Etwas ganz anderes" sei die Frage, wie er zur EU stehe. Der fehle es leider immer mehr an demokratischer Kontrolle, an Legitimation. Kurioserweise verteidigt so ein ziemlich insularer Premierminister "von ganzem Herzen" die britische EU-Mitgliedschaft - während der polyglotte, weltläufige Bürgermeister Londons "mit schwerem Herzen" die Verbindungen kappen will.

Gelebt hat Johnson übrigens schon als kleiner Bub zwei Jahre lang in Brüssel. Sein Vater arbeitete damals für die EU-Kommission. Boris selbst besuchte die Europäische Schule und lernte fließend Französisch (und noch ein paar andere Sprachen dazu).

Multikulti war kein Problem für ihn. Seine Familie hat außer englischen auch türkische, französische, deutsche und Schweizer Wurzeln. Er sei, sagte Johnson einmal, der reinste "Ein-Mann-Schmelztiegel", eine ethnische Kuriosität. Das hinderte den Briten, der mit vollem Namen Alexander Boris de Pfeffel Johnson heißt, nicht daran, später im Leben eine ausgeprägt "euroskeptische" Natur zu entwickeln. Gelegenheit dazu gab ihm, in den neunziger Jahren, sein Job als EU-Berichterstatter des rechtskonservativen "Daily Telegraph."

In jenen Jahren in Brüssel bereitete Johnson seinen Lesern größtes Vergnügen mit Spottartikeln über EU-Bürokraten, Angriffen gegen die Union generell und der rhetorischen Demontage des damaligen Kommissionschefs Jacques Delors speziell. Mit leichter Feder und cleverer Häme schärfte er sein Profil.

Seine britischen Kollegen in Brüssel pflegten über "Boris endlose Verdrehungen und Erfindungen" zu stöhnen. Aber bei Telegraph-lesenden Tories daheim kamen die Schmähschriften "aus dem Herzen der Union" bestens an. Selbst zur Gründung der Unabhängigkeits- und Anti-EU-Partei Ukip sollen Johnsons Berichte aus Brüssel ihr Teil beigetragen haben damals.

Später, während seiner Karriere als Abgeordneter und Bürgermeister, schwankte er zwischen Akzeptanz der EU (etwa gegenüber der Hochfinanz der Londoner City) und immer neuer, fast bekümmerter Ablehnung der Institution. "Warum", fragte er einmal, "suchen wir diese unselige Anhäufung unabhängiger Staaten so verzweifelt mit Kaugummi zusammenzuhalten?"

Ihm komme es so vor, als sei die EU "die Antwort von gestern auf eine Frage von vorgestern", meinte Johnson. Und schon vor eineinhalb Jahren erklärte er, dass man sich "vor einem Austritt nicht fürchten" müsse - wenn es nicht wirklich "fundamentale Reformen" gebe. Nun findet Boris Johnson, dass Cameron, der am Wochenende die Bedingungen für den Verbleib seines Landes in der EU aushandelte, keine "fundamentalen Reformen" mit nach Hause gebracht hat. Also gebe es - leider - "keine andere Wahl" als ein Nein zur EU.