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Zwischen den Flüchtlingsfronten

Von WZ-Korrespondent Sliviu Mihai

Politik

Der Westbalkan zwischen politischer Instabilität, wirtschaftlichen Herausforderungen und Brüsseler Anforderungen in der Asylpolitik.


Skopje. "Um den wachsenden Druck an dieser Grenze und in Griechenland zu erleichtern, wird Mazedonien täglich genauso viele Flüchtlinge durchlassen, wie die EU aufnehmen möchte", sagte der mazedonische Innenminister Oliver Spasovski am Mitttwoch, als er den südlichen Grenzübergang Gevgelija besuchte. Der in den letzten Tagen und Wochen ständig wiederholte Satz klang mitunter fast verzweifelt. Er drückt das massive Dilemma aus, mit dem sich die Westbalkan-Staaten immer stärker konfrontiert sehen: Einerseits gilt, sich mit der EU nicht unnötig anzulegen, um die Beitrittsverhandlungen, die wichtigste Finanzierungsquelle oder die Freizügigkeit nicht zu gefährden. Andererseits spricht die EU in der Flüchtlingsfrage nicht mit einer Stimme, im Gegenteil - es fliegen die Fetzen. Daran änderte auch ein Gespräch des österreichischen Vizekanzlers Reinhold Mitterlehner mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Mittwoch nichts. Zwar sah Mitterlehner eine "atmosphärische Bereinigung" und zeigte sich zuversichtlich, dass sich bald Fortschritte bei der EU-weiten Umverteilung von Flüchtlingen geben würden. Gleichzeitig sprach er aber auch von einer "Teillösung" und vom "Bohren dicker Bretter".

Ebenfalls auf Gesprächstour war nach seinem Wien-Besuch am Dienstag auch EU-Ratspräsident Donald Tusk. Bei Treffen mit hochrangigen slowenischen, kroatischen und mazedonischen Politikern drängte er auf eine gemeinsame Lösung der Flüchtlingskrise, die eine humanitäre Katastrophe in Griechenland oder in der Türkei vermeiden müsse, und betonte gleichzeitig, die Rückkehr zu den Bestimmungen des Schengen-Abkommens sei "alternativlos".

Implizit ist dies für die meisten lokalen Medien und Beobachter eine Kritik der von Wien geforderten Sperrungen entlang der Balkanroute. Solche Alleingänge seien gefährlich und könnten die hart erkämpfte Freizügigkeit auf dem Kontinent untergraben, heißt es immer wieder aus Brüssel und Berlin. Außerdem könne es zu Eskalationen kommen, wenn Griechenland mit dem Problem alleine gelassen werde.

Letzteres konnten die mazedonischen Behörden selber erfahren, als in den letzten Tagen verzweifelte Flüchtlinge mehrmals versuchten, die Grenzsperrungen in Gevgelija zu durchbrechen, um weiter Richtung Norden reisen zu können. Und ein Zusammenbruch des Schengen-Abkommens wäre aus Sicht der Westbalkanländer tatsächlich ein horrendes Ereignis, das das Potenzial hätte, die ganze ohnehin noch fragile Region in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kollaps zu treiben. Denn bis auf die Staatsbürger des Kosovo dürfen alle Angehörigen der Balkanstaaten seit einigen Jahren ohne Visum in die EU einreisen.

Stimmungsaufheller

Slowenien und Kroatien genießen darüber hinaus alle Vorteile der Mitgliedstaaten, aber auch für Mazedonien und Serbien gilt der Anwärterstatus als wichtigster politischer Stabilitätsfaktor und wesentlicher Antrieb des Wachstums. Schließlich ist die Balkanroute nicht nur für Flüchtlinge, sondern auch für Unternehmer und Bürger der kürzeste Weg von Südost- nach Mitteleuropa.

Von dieser Route hängen dementsprechend viele Arbeitsplätze in den Balkanländern ab, aber auch die prekäre Legitimität der Regierungen in dieser Region. Was der Westbalkan dringend braucht, sind Investitionen. Zwar hat sich die Stimmung deutlich aufgehellt, wie aus dem jüngsten "Geschäftsklima-Index Mittelosteuropa" hervorgeht, den die Oesterreichische Kontrollbank vierteljährlich berechnet - vor allem in Serbien, wo er Anfang 2016 den höchsten Wert seit der Finanzkrise 2008 erreicht. Ausschlaggebend hierfür ist laut OeKB die Verbesserung der aktuellen Geschäftslage; die Bereitschaft zu Erweiterungsinvestitionen bei serbischen Beteiligungen steige. Dennoch will sich in der Region ein nachhaltiger Aufschwung nicht so recht einstellen.

Verärgerung vorprogrammiert

Was die Flüchtlingskrise betrifft, scheint im Moment jede mögliche Entscheidung der Politiker in Skopje, Belgrad, Zagreb und Ljubljana den Stoff zu haben, entweder Wien oder Berlin und Brüssel zu verärgern. Insbesondere für die Länder, die noch nicht EU-Mitglieder sind, ist die Situation äußerst unangenehm. Serbien bemüht sich seit einiger Zeit, die stockenden Beitrittsverhandlungen voranzutreiben, und die Eröffnung der ersten zwei Kapitel Ende vergangenen Jahres hat vielen wieder Hoffnung gegeben, dass das Land es vielleicht doch noch schaffen könnte, sich aus der peripherischen Grauzone herauszuziehen. Zwar sind die Hürden beeindruckend: Die empfindliche Frage der Beziehungen mit dem Kosovo, die grassierende Korruption, die marode Wirtschaft und die Massenarbeitslosigkeit, um nur einige zu nennen. Aber gleichzeitig steht mittlerweile für die überwiegende Mehrheit der Serben auch fest, dass nur die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft und konkrete Fortschritte auf diesem Weg diese Probleme lösen können. Kollabiert Schengen und damit vielleicht die wichtigste Errungenschaft der EU, so platzt dieser Traum.

Noch komplizierter ist die Lage in Mazedonien. Hier versuchen Zivilgesellschaft und Opposition seit Monaten, das korrupte und autoritäre Machtsystem des früheren Ministerpräsidenten Nikola Gruevski loszuwerden. Dieser trat Mitte Januar auf Druck der EU und der Proteste in Skopje zurück, nachdem bekannt wurde, dass seine Regierung jahrelang illegale Abhöraktionen, Einmischungen in die Justiz und Wahlfälschungen betrieben hatte. Nach einer mühsamen Mediation durch Brüsseler Sonderbeauftragte und Kommissare einigten sich Regierungspartei und Opposition auf eine Übergangslösung: Beide verfeindete Lager sind jetzt im Kabinett vertreten, über ein genaues Datum für vorgezogene Wahlen gibt es bisher noch keine Einigung. Weitere Interventionen und Verhandlungen unter EU-Führung scheinen im Moment nötig zu sein, um das Land nachhaltig zu stabilisieren. Verliert der Mediator seine Legitimität oder wird die Perspektive einer europäischen Integration unglaubwürdig, so fällt der letzte Grund aus, warum sich die Mazedonier noch nicht ihrerseits massiv auf den Weg nach Westen machen.