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"Vielleicht brauchen wir Mauern mit Türen"

Von Siobhan Geets

Politik
"Langfristig brauchen wir Leadership", betont Lamberto Zannier.

OSZE-Generalsekretär Lamberto Zannier über Migration und Sicherheit und langfristige Lösungen.


Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) trifft am Freitag in Rom zusammen, um über den Zusammenhang zwischen Migration und Sicherheit zu beraten. OSZE-Generalsekretär Lamberto Zannier skizziert aus diesem Anlass im Interview mit der "Wiener Zeitung" die Vorschläge seiner Organisation, wie diesem Thema zu begegnen ist und welche Herausforderungen Fluchtbewegungen für die Zukunft darstellen.

"Wiener Zeitung": Was erwarten Sie sich von den Sicherheitstagen Ihrer Organisation, bei denen es erstmals auch um Migration geht?

Lamberto Zannier: Während der Sicherheitstage können wir unsere internationalen Delegationen mit der Zivilgesellschaft zusammenbringen, mit Parlamentariern und Akademikern. Wir befassen uns unter anderem mit der Frage, was mit Gesellschaften passiert, die multiethnisch geprägt sind. Wir müssen mehr in Bildung investieren, das ist der erste Schritt. Der zweite wichtige Punkt ist, wie man im Sinne der Sicherheit besser kooperieren kann.

Wie gut funktioniert die Zusammenarbeit unter EU-Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung von Terrorismus? Bei der Verfolgung der Paris-Attentäter scheint ja einiges schiefgegangen zu sein in der Kommunikation zwischen Frankreich und Belgien . . .

Hier gibt es auf einigen Ebenen Lücken. Zuerst geht es darum, das Problem ernst zu nehmen - manche Staaten machen das immer noch nicht. Eine Herausforderung dieses neuen Terrorismus ist - und man sieht das bei Daesh (dem Islamischen Staat, Anm.) -, dass er sich gegen unser Zivilisationsmodell richtet. Häufig verstehen die Terroristen das, was wir als unsere Stärken sehen - Meinungsfreiheit, Medienfreiheit -, als Schwächen, die es gegen uns zu nutzen gilt. Das ist gefährlich. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Menschen unsere Werte zunichtemachen. Man braucht eine strategische Kooperation, deshalb muss man Staaten, die schwächere Sicherheitsstrukturen haben, unterstützen. Hier kommen wir ins Spiel. Grenzkontrollen beispielsweise verlangen nach Informationsaustausch.

Und der findet nicht statt?

Ich habe kürzlich mit Mazedoniens Präsidenten gesprochen. Er hat mir erzählt, dass sein Land als Nicht-EU-Mitglied keinen Zugang zur Frontex-Datenbank hat, dabei hatten sie ja mit Flüchtlingen zu tun, die direkt aus Griechenland kommen. Das ist mehr ein bürokratisches Problem als ein politisches. Bei der Identifikation potenzieller Terroristen im Flüchtlingsstrom darf uns die Bürokratie nicht im Weg stehen.

Es gibt nun einen Stau in Griechenland, nachdem Mazedonien seine Grenzen geschlossen hat. Was bedeutet das für die Sicherheitssituation in Griechenland und in der gesamten EU?

Das ist zweifellos ein Riesenproblem für Griechenland. Es ist eine sehr seltsame Situation: EU-Mitgliedstaaten wie Österreich schränken den Zugang ein, nach Griechenland kommen immer mehr Menschen. Länder dazwischen wie Kroatien oder Slowenien sind in der Mitte gefangen. Lassen sie mehr Menschen herein, werden diese dort bleiben. Zäune zu errichten ist die offensichtliche, die einfache Reaktion. Griechenland leidet unter dieser nicht sehr nachhaltigen Politik. Wir brauchen eine gemeinsame Strategie. Einzelne Länder unter Druck zu setzen, wie es derzeit passiert, führt zu bilateralen Auseinandersetzungen und Spannungen unter Nachbarn. Wir müssen die Migrationsdebatte auf eine höhere Ebene bringen. Griechenland hat jedes Recht, sich bei der EU zu beschweren und darauf hinzuweisen, dass es sich bei der derzeitigen Politik nicht um eine nachhaltige Strategie handelt. Es gibt zwar Abmachungen mit der Türkei, aber wir sehen, dass sie nicht funktionieren, die Menschen kommen ja nach wie vor. Griechenland darf nicht zum Opfer dieser Krise werden.

Das sogenannte Grenzmanagement ist auch an der österreichischen Südgrenze angekommen. Dort dürfen jetzt nur noch 80 Flüchtlinge pro Tag einen Asylantrag stellen. Wie sehen Sie diese Maßnahme?

Wir sollten uns auf das größere Bild konzentrieren. Sehen wir uns die demografischen Entwicklungen der vergangenen 50, 60 Jahre an. Europa hatte zweimal so viele Einwohner wie Afrika, heute ist es umgekehrt. Die Anzahl der Konflikte hat sich vervielfacht. Kann Europa all das auffangen? Afrika, Asien, Afghanistan - Europa kann alleine keine Lösung für diese Krisen bieten, wir brauchen ein langfristiges Konzept. Mauern zu bauen ist keine Lösung, aber vielleicht braucht es Mauern mit Türen. Wir stehen am Anfang einer neuen historischen Phase, die nach neuen Prinzipien verlangt. Dazu gehört auch, sicherzustellen, dass Flüchtlinge in ihrer neuen Heimat nicht diskriminiert werden. Zugleich dürfen wir unsere eigenen Prinzipien und unsre eigene Kultur nicht aufgeben.

Entwickelt sich nicht längst ein Kerneuropa mit Österreich als Südost-Grenze? Entwickeln wir uns zurück?

Ich wäre da nicht so dramatisch, das ist nicht das Ende der Europäischen Union. Als Generalsekretär der OSZE kann ich nur sagen, dass die Stabilität der EU wichtig ist für jene des OSZE-Gebiets. Die EU muss sich sehr anstrengen, auch über die Flüchtlingskrise hinaus. Die EU verfügt über Werkzeuge, die sehr nationalstaatlich ausgerichtet sind. Ich denke da etwa an die Entwicklungszusammenarbeit. Es wäre wichtig, hier gemeinsame Prioritäten zu finden, vor allem für die Gebiete, aus denen die Flüchtlingsströme kommen. Eine proaktive, gemeinsame Politik könnte die Ursachen der Migration effizienter bekämpfen.

Politische Stabilität spielt also eine Rolle in der Migrationsfrage. Wie verhält es sich mit dem Klimawandel?

Auch der spielt eine sehr große Rolle. Für mich ist das ein frustrierendes Thema. Regierungen tendieren dazu, den Klimawandel herunterzuspielen, dabei ist er ein wichtiger Faktor, in Zukunft wird er noch größer werden. Bereits heute ist der Klimawandel eine Ursache globaler Migrationsströme - inklusive Syrien!

Weil die Proteste in Syrien mit der Krise nach einer jahrelangen Dürreperiode begonnen haben?

Dürre spielt global eine große Rolle. Konflikte führen zu politischer Instabilität, die Landwirtschaft produziert weniger, und die Menschen machen sich auf den Weg. Afrika ist mittlerweile überbevölkert, wir sehen hier sehr starke Migrationsbewegungen - Europa wird aller Wahrscheinlichkeit nach ein Hauptziel bleiben. Wir müssen Fakten wie den Klimawandel mehr in unsere Strategien einbinden.

Aber wie? Wie überzeugt man Regierungen, über den Zeitrahmen einer Legislaturperiode hinaus zu denken?

Das ist eine unserer Frustrationen, vor allem beim Thema Klimawandel. Vielleicht bräuchte es einen stärkeren Fokus auf multilaterale Institutionen. Der Horizont von Politikern endet ja meist beim Termin für die nächsten Wahlen. Zudem sind klimafreundliche Strategien sehr kostspielig, die positiven Effekte zeigen sich oft erst nach Jahren oder Jahrzehnten. Ich arbeite ständig gegen Skeptiker, einfach weil es sich um ein ernstes Thema handelt, das uns alle betrifft. Beim Thema Migration verhält es sich ähnlich: Im Moment muss man sich um die Krise kümmern, doch mein Job ist es, nach langfristigen Lösungen zu suchen.

Wie sehen diese langfristigen Lösungen aus?

Wir müssen unsere Kräfte bündeln, auch was den Kampf gegen Kriminalität angeht. Ich denke etwa an Menschenschmuggler - in der Migration gibt es auch diesen Push-Faktor, den wir besser bekämpfen müssen. Die OSZE hat einige Partner, auch in Afrika und im Nahen Osten. Wir müssen besser mit ihnen zusammenarbeiten, das liegt auch in deren Interesse. Sie könnten unsere Unterstützung im Kampf gegen organisiertes Verbrechen in ihren Ländern gut gebrauchen. Das sind die kurzfristigen Maßnahmen, die es zu setzen gilt. Langfristig brauchen wir Leadership, wir müssen uns vorbereiten auf das, was da noch kommt.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) entstand 1975 als Zusammenschluss verschiedener Staaten zur Friedenssicherung. Mitglied der OSZE sind alle Staaten Europas bis auf den Kosovo, die Nachfolgestaaten der UdSSR, die USA, Kanada und die Mongolei. Das OSZE-Generalsekretariats sitzt in Wien. Die OSZE vermittelt in Konflikten und entwickelt Konzepte zur Friedenssicherung.

Lamberto Zannnier geboren 1954 im italienischen Fagagna, ist seit Juli 2011 Generalsekretär der OSZE. Der Jurist war für die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen tätig, bevor er in den italienischen diplomatischen Dienst eintrat. Ab 1991 arbeitete er für die Nato, wo er für Abrüstungsfragen zuständig war. Seit 2000 ist er für die OSZE tätig.