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"Umgegangen wie mit Kriminellen"

Von Teresa Reiter

Politik

Der ungarische Völkerrechtler Boldizsar Nagy über die Flüchtlingspolitik von Premier Viktor Orbán.


In Reaktion auf die Schließung der Balkanroute hat die ungarische Regierung vergangene Woche den Krisenzustand ausgerufen, um mit Personenkontrollen und mehr Polizei gegen etwaige ins Land kommende Flüchtlinge vorgehen zu können. Der ungarische Völkerrechtler Boldizsar Nagy war am vergangen Wochenende am Symposion Dürnstein zu Gast und kritisiert die Flüchtlingspolitik des ungarischen Premiers Viktor Orbán hart.

"Wiener Zeitung": Hat die Ausrufung des Krisenzustands in Ungarn eine Aussetzung von Menschenrechten zur Folge?

Boldizsar Nagy: Es ist nicht dasselbe wie ein Ausnahmezustand. Der rechtliche Begriff ist "Krisensituation aufgrund von Massenzuzug", was schon darauf hinweist, dass er nicht verhängt werden hätte dürfen, denn es gibt keinen Massenzuzug. Es ist eine Maßnahme, die dazu dienen soll, auf Gewalt oder Bedrohung gegen das ungarische Volk zu reagieren, aber beides findet nicht statt. Der Krisenzustand gibt der Exekutive die Möglichkeit, bestimmte Fahrzeuge und Gebäude, die aber alle zumindest teilweise im Staatseigentum sind, zu nutzen. Es ist also kein Eingriff in das Recht auf Privatbesitz und begrenzt nicht die Menschenrechte der Einwohner.

Und die Rechte der Asylwerber?

Wenn sie über den Zaun kommen, werden sie auf Grundlage strafrechtlicher Bestimmungen inhaftiert. Dieses Verfahren wird sehr schnell durchgeführt und hat eigentlich nichts mit dem Flüchtlingsstatus zu tun. Es ist falsch, dass mit diesen Menschen umgegangen wird, als ob sie Kriminelle wären. Das hat auch die Europäische Kommission kritisiert und ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet. Man hat auch den Gerichten das Recht aberkannt, die Entscheidungen der Asylbehörden abzuändern.

Wird dieser Prozess Ihrer Meinung nach weitergehen?

Es gibt eine neue Runde an Vorhaben, die aber noch nicht vom Parlament beschlossen wurden. Diese beschränken etwa den Platz, der jedem inhaftierten Asylwerber zusteht, auf etwa 3,5 Quadratmeter. Das ist weniger als in einem Gefängnis. Die Regierung will außerdem den anerkannten Asylanten jede Form der Integrationsmaßnahme verwehren. Das bedeutet keine Sprachkurse, kein Wohngeld, nichts.

In Ungarn gibt es eine wenig bekannte Resolution über eine Migrationsstrategie des Landes, von der heute keiner mehr spricht.. .

Der Text ist auf keiner Website der Regierung zu finden. Das liegt daran, dass der Text geschrieben wurde, bevor der Integrationsfonds der EU mit dem Flüchtlingsfonds zusammengelegt worden ist und Ungarn damals noch überlegt hat, wie man EU-Gelder für sich nutzen könnte. Dafür hätte man eine Migrationsstrategie gebraucht.

Was ist der Inhalt?

Es ist ein sehr einseitiges Dokument. Ich habe die Autoren gefragt, warum es nicht von Auswanderung spricht, die auch ein immer größeres Problem wird, sondern nur von Einwanderung. Sie sagten mir, sie seien nicht beauftragt gewesen, das miteinzubeziehen. Hinsichtlich Immigration ist es beinahe ein fairer Entwurf. Darin steht nichts, was nicht auch in einem Papier der Kommission stehen könnte. Es geht darum, dass es einen Arbeitskräftemangel gibt, Ungarn um qualifizierte Arbeitskräfte werben muss, wir Integrationsmaßnahmen verbessern müssen. Es sagt auch, dass man Flüchtlinge beschützen muss und ihnen helfen, sich in die Gesellschaft zu integrieren. All das ist jetzt Schall und Rauch.

Herrscht im Westen der Glaube vor, dass nur wir uns aussuchen dürfen sollten, wo wir leben, nicht aber die Bewohner anderer Weltgegenden?

Ich glaube, dass Nationalität über die relative Reisefreiheit eines Menschen bestimmt. Relativ, weil wir natürlich auch nicht nach Saudi-Arabien oder Nordkorea ziehen können, aber unsere Freiheit ist immer noch größer als die der Leute dort. Nationalität ist also ein feudales Privileg. Wenn du in Indien geboren wirst, dann ist das, wie wenn du in feudalistischen Zeiten in einer niederen Schicht geboren wurdest. Du bist nicht so frei wie ein Bewohner der EU oder der OECD-Region. Es gibt keine ethische Basis dafür.

Was wäre Ihr Vorschlag?

Ich denke, dass mit sehr wenigen Ausnahmen die globale Reisefreiheit eingeführt werden sollte. Ökonomen haben hundertmal bewiesen, dass das globale BIP zwischen 50 und 200 Prozent steigen würde, je nachdem unter welchen Bedingungen man das einführt. Die EU selbst ist auf der Idee aufgebaut, dass man gemeinsam produktiver und reicher werden kann als allein. Es würde weltweit so ähnlich funktionieren. Ich habe nur einige wenige Vorbehalte dagegen. Ich verstehe, dass große Zahlen von Einwanderern in ein kleines Land eine Gefahr für die dortige Kultur sein könnten und würde akzeptieren, dass man unter diesen Bedingungen eine Begrenzung einführt.

Gilt das dann nicht für jedes kleinere Land?

Ich glaube nicht an den Mythos der unveränderlichen Gesellschaft und selbst wenn es sie gäbe, dann wäre das keine gute Sache. Kulturen, die man in Ruhe lässt, verändern sich auch stark und das liegt nicht daran, dass sie von äußerlichen Einflüssen abgeschirmt sind. Wenn eine Kultur widerstandsfähig ist, so überlebt sie auch. Und wenn das nicht so wäre, wäre es auch nicht notwendigerweise schlimm. Wer will den Feudalismus zurück oder die Sklaverei oder den Holocaust? Die haben auch einmal zu unserer Kultur gehört. Europa ist aufgeblüht, weil wir uns verändert haben und gewachsen sind.

Ungarn war einst ein vorbildliches Mitglied der EU. Wird die Orbán-Regierung in absehbarer Zeit abgewählt werden und wird das Land zu alter Politik zurückkehren?

Unsere Regierung hat so viele Sünden gegen ihr Volk begangen und so viele wichtige Wählergruppen entfremdet: Lehrer, Polizei, Intellektuelle, Studierende. Es gibt bis auf die Kernwählerschaft, die vom Staat oder durch veruntreutes Geld bezahlt wird, kaum eine soziale Gruppe, für die es logisch wäre, jetzt noch für Orbán zu stimmen. Unglücklicherweise gibt es ausgegrenzte Gruppen, die ihn dennoch unterstützen. Es ist ein kompliziertes Phänomen.

Boldizsar Nagy ist Associate Professor am Department für Internationale Beziehungen Central European Universität in Budapest.