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Angekommen, verschollen

Von Martyna Czarnowska und Ines Scholz

Politik
Sie reisten allein nach Europa, danach verlor sich die Spur von 10.000 minderjährigen Flüchtlingen.
© reu/Djurica

Von tausenden Flüchtlingskindern in Europa fehlt weiterhin jede Spur.


Wien/Brüssel. Der Ruf der EU-Regierungen nach Registrierzentren für Flüchtlinge war laut. Es könne nicht sein, dass Menschen, die in Europa Schutz suchen, ohne Identifizierung ihrer Person, ohne Vorzeigen von Ausweispapieren und Abnahme von Fingerabdrücken nach Europa reisen. Die Sicherheitsdienste der Mitgliedstaaten wollten jederzeit Daten über den Aufenthalt einer Flüchtlingsperson abgleichen können. Vor allem in Deutschland und Österreich, die im Vorjahr zu den Hauptzielländern des Flüchtlingsstroms wurden, gab es Bemühungen, die Einreisenden lückenlos zu erfassen. Sicherheit wird großgeschrieben.

Allerdings gilt das Sicherheitsbedürfnis offenbar nicht immer im Fall unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge. Aberzehntausende hatten sich aus dem Bürgerkriegsland Syrien oder anderen Krisenregionen auf den Weg in die EU gemacht, ohne Eltern, ohne Verwandte, ohne Bekannte. Sie waren auf sich selbst gestellt, mussten sich monatelang allein durchschlagen, hatten oft nicht einmal Geld, um Schlepper zu bezahlen.

Fragen aus dem EU-Parlament

In Asylantragsstellen einmal angekommen, verschwinden danach viele der Alleinreisenden unter 18 Jahren spurlos. Anfang Februar hatte eine Mitteilung der europäischen Polizeibehörde Europol aufhorchen lassen. Mindestens 10.000 alleinreisende Flüchtlingskinder seien in den vergangenen 18 bis 24 Monaten nach ihrer Ankunft in Europa verschollen. Dies bedeute nicht, dass allen etwas passiert sei. Die Polizeiagentur verweist darauf, dass ein Teil der Kinder sich vermutlich mittlerweile bei Verwandten aufhält. Dennoch alarmieren die Zahlen Hilfsorganisationen.

Auch im Europäischen Parlament sorgte der Europol-Bericht für Aufregung. Liberale Abgeordnete wollten sich mit einer Anfrage "zur mündlichen Beantwortung" an das Gremium der 28 Mitgliedstaaten sowie die EU-Kommission wenden. Sie wünschen sich Auskunft zu Zahlen, wie viele unbegleitete Minderjährige - aufgeschlüsselt nach Land und Alter - als Flüchtlinge registriert seien und ob es spezielle Folgemaßnahmen für die Jugendlichen nach ihrer Registrierung gebe. Weitere Fragen werden nach Plänen gestellt, um zu verhindern, dass Flüchtlingskinder in kriminelle Umfelder gelangen. Und schließlich: "Was tut Europol, um diese vermissten Kinder aufzuspüren und sie vor diesen kriminellen Banden zu schützen?"

Doch die Forderung nach Aufklärung ist bisher nicht aus dem Parlament hinausgedrungen. In der Konferenz der Präsidenten, die unter anderem die Arbeiten des Hauses organisiert und die Zuständigkeiten der Ausschüsse regelt, sei die Anfrage fürs Erste daran gescheitert, dass die großen Fraktionen keine Plenumsdiskussion darüber wollten, heißt es aus Kreisen der Liberalen. Bei den Sozialdemokraten wird diese Darstellung jedoch zurückgewiesen, und auch aus den Reihen der Europäischen Volkspartei gab es zunächst keine Bestätigung. Aus dem Büro von Parlamentspräsident Martin Schulz hieß es, der Antrag sei noch nicht bearbeitet worden. Zwei sozialdemokratische EU-Parlamentarier, Birgit Sippel und Josef Weidenholzer, haben ebenfalls eine Anfrage an die Kommission gestellt.

Unklar ist, wie viele alleinreisende minderjährige Flüchtlinge, die in Österreich einen Antrag gestellt haben, abgängig sind. Die Lage ist unübersichtlich. Katherina Glawischnig, Leiterin der Koordinationsgruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF), spricht gegenüber der "Wiener Zeitung" von 3500 bis 4000 Kindern, "die uns abgehen". Ein Großteil von ihnen sei aber vermutlich nach Deutschland oder Schweden weitergereist, weil "die Unterbringungssituation vor allem im Sommer hier sehr prekär war". Dass hier organisierte Banden gezielt Flüchtlingskinder rekrutiert haben, um sie sexuell auszubeuten oder als Organspender zu benutzen, glaubt Glawischnig nicht, "aber es ist natürlich denkbar, dass einige jugendliche Flüchtlinge in prekäre Verhältnisse geraten sind". "Wir werden das nur leider nie herausbekommen." Dafür verantwortlich macht sie das schlechte Zusammenspiel der Behörden - national und EU-weit. Das Interesse, die Kinder, zu finden, fehle, meint Glawischnig. Polizeiliche Abgängigkeitsanzeigen etwa würden nur von den Flüchtlings-Landesbetreuungsstellen erstattet. Das Innenministerium dementiert: Auch Bundesbetreuungsbehörden würden Fälle der Polizei melden, versichert Ministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck. Allerdings wird im Ministerium eingeräumt, dass im Register für abgängige Personen des Bundeskriminalamtes zwar die Staatsbürgerschaft erfasst wird, aber nicht, ob jemand Flüchtling ist.

Das Deutsche Rote Kreuz hat jedenfalls eine Suchdienst-Seite eingerichtet; sie soll helfen, das große Rätsel der 5000 in Deutschland verschwundenen Flüchtlingskinder zu lösen.