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Die Nacht gehört ihnen

Von WZ-Korrespondentin Birgit Holzer

Politik

Tausende Linke versammeln sich täglich in ganz Frankreich, um gegen soziale Ungerechtigkeit zu demonstrieren.


Paris. Ein Hauch von Revolution schwebt in der Luft von Paris. Oder zumindest der Wille zu einem radikalen Wandel. Hunderte Menschen versammeln sich auf dem Platz der Republik und bilden Kreise um wechselnde Redner. Jeder bekommt zwei Minuten, um seine Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft zu präsentieren. "Zeigen wir, dass wir selbst handeln können", ruft ein junger Mann. "Haben wir Mut zum Idealismus!" Wohlwollend hört das Publikum zu, vor allem Schüler und Studenten, aber auch Pensionisten sind darunter.

Auf dem Platz im Osten der französischen Hauptstadt wurde im vergangenen Jahr den Opfern der Terror-Attentate gedacht, die sich in unmittelbarer Nähe abspielten; jetzt gerät er zum zentralen Treffpunkt für die Bürgerinitiative "Nuit debout", also "Nacht im Stehen".

Noch scheint ungewiss, ob sie sich bald wieder zerstreut - oder ob Frankreich den Beginn einer umfassenden antikapitalistischen Protestbewegung erlebt, wie sie die USA vor ein paar Jahren mit der "Occupy Wall Street" gekannt haben und in Spanien die "Indignados" ("Die Empörten") gegen unfaire soziale und wirtschaftliche Verhältnisse demonstrierten.

Hollande fürchtet Revolte

In Frankreich begann alles mit dem Widerstand gegen eine Arbeitsmarktreform, mit der die Regierung den Kündigungsschutz lockern und die 35-Stunden-Woche aufweichen will; während sich die Regierung durch die Flexibilisierung Stellenschaffungen erhofft, befürchten die Gegner den Ausverkauf sozialer Errungenschaften.

Nach einem landesweit von Gewerkschaften, Schüler- und Studentenverbänden organisierten Protesttag am 31. März gingen viele von ihnen einfach nicht nach Hause. Mit ihren Spruchbändern verharrten sie auf dem Platz der Republik - um seither jeden Abend wiederzukommen. Inzwischen gibt es Ableger von "Nuit debout" in mehr als 100 französischen Städten.

Neben einer täglichen Vollversammlung werden in Kommissionen praktische Fragen geklärt sowie Anliegen ausgearbeitet, die in einem Manifest stehen. Sie reichen von einer humaneren Aufnahme von Flüchtlingen über die Kritik an den jüngsten Anti-Terror-Gesetzen bis zur Forderung nach einem neuen Wahlsystem. Doch auch Krawallmacher mischten sich unter die friedlich Debattierenden. Ein Teil machte sich gar zur Privatwohnung von Premierminister Manuel Valls auf, es kam zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei.

Die Politik scheint überfordert und reagiert zurückhaltend. Während die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo erklärt, es sei "legitim, von einer besseren Welt zu träumen", verspricht die Regierung, in ihrem Gesetzesentwurf speziell jungen Arbeitssuchenden entgegenzukommen. Am heutigen Donnerstag sucht Präsident Hollande in einer TV-Sendung den "Dialog mit den Bürgern". Er fürchtet eine umfassende Jugendrevolte, die die Stimmung endgültig zum Kippen bringen könnte.

Während bisher der rechtsextreme Front National den weit verbreiteten Verdruss über ein blockiertes System und eine bürgerferne politische Kaste monopolisiert hat, ist es nun die radikale Linke, die sich regt. Politikwissenschafter Yves Sintomer von der Uni Paris 8 nennt die Bewegung beeindruckend: "In einem schwarzen Klima bedeutet das für viele frischen Wind."