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"Versagen, aus der Geschichte zu lernen"

Von Thomas Seifert

Politik

Yanis Varoufakis ist "traurig und wütend", wenn er daran denkt, dass Österreich einen FPÖ-Bundespräsidenten wählen könnte.


"Wiener Zeitung": Am Sonntag entscheidet das griechische Parlament über eine weitere Senkung der Pensionen, gleichzeitig werden Pensions- und Krankenkassenbeiträge angehoben, die Mehrwertsteuer steigt von 23 auf 24 Prozent. Zur Finanzkrise ist die Flüchtlingskrise hinzugekommen.

Yanis Varoufakis: Das war zu einem Zeitpunkt, als der griechische Wohlfahrtsstaat bereits dezimiert war. Den hat die Troika so gut wie abgeschafft. Manche Spitäler können sich nicht einmal mehr Spritzen leisten. Gleichzeitig: Ist es nicht wunderbar, dass viele Griechinnen und Griechen ihre Türen für die Flüchtlinge geöffnet haben - und das trotz der Finanzkrise, trotz der Arbeitslosigkeit, trotz des Elends. Es gab bisher noch keinen Backlash gegen Flüchtlinge - auch wenn es eine traurige Realität ist, dass wir eine rechtsextreme Partei in Griechenland im Parlament haben.

Verspüren Sie nicht Reue, wenn Sie an das griechische Drama und ihre Rolle darin denken? Oder Bitterkeit?

Ich verspüre keine Reue oder Bitterkeit. Denn ich weiß, wie es gelaufen ist: Die Troika hat einen Keil in die griechische Regierung getrieben. Premierminister Alexis Tsipras und der Rest der Regierung haben kapituliert. Das war eine Schande nicht nur für Griechenland, sondern für die Europäische Union. Wenn man vom Pferd fällt, springt man eben wieder in den Sattel.

Sprechen Sie noch mit Tsipras?

Nein. Es gibt nichts zu besprechen. Er hat sich in eine Sackgasse manövriert, aus der es kein Entkommen mehr gibt.

Und der europäische Traum ist für Sie ausgeträumt?

Mahatma Gandhi hat einmal auf die Frage, was er von der westlichen Zivilisation hält, geantwortet: "Das wäre eine gute Idee." Mit der Europäischen Union verhält es sich ebenso, das wäre auch eine gute Idee. Im Moment haben wir aber eine Dis-Union. Leider hat die Wirtschaftskrise, die 2007, 2008 von der Wall Street ihren Ausgang nahm, den europäischen Zusammenhalt zerstört. Die Bürger Europas müssen nun die europäischen Institutionen und Entscheidungsprozesse demokratisieren, um den Niedergang der EU zu stoppen.

Wie beurteilen Sie den Aufstieg der Rechtspopulisten?

Es gibt offenbar ein Versagen, aus der Geschichte zu lernen. Im Jahr 1929 kollabierte die Wall Street. Die Linke hat es nicht geschafft, gemeinsam mit liberalen Demokraten eine Allianz zu schmieden, um den Aufstieg der Rechtsextremisten zu verhindern. Heute sehen wir, dass ähnliches vor sich geht.

Die liberale Demokratie ist aber nicht nur in Europa in einer schweren Krise, sondern auch in den USA - von der Türkei oder Russland gar nicht zu reden. Driften wir in eine Epoche des Autoritarismus?

Der Kollaps der Wall Street war der Start in den Abgrund in den 1930er Jahren. Alles begann mit einer Krise des Kapitalismus. Genauso ist es heute. Europa ist offenbar immer sehr fragil und wenig krisenresistent. Wenn der globale Kapitalismus einen Schnupfen hat, bekommt Europa eine Lungenentzündung. Und wenn der globale Kapitalismus an einer Lungenentzündung leidet, taumelt Europa am Rande des Kollaps. Das Problem scheint die kartellähnliche Organisationsstruktur der EU zu sein. Zudem wurde auf den Einbau von Stoßdämpfern, die Wirtschafts-Schocks in der Union absorbieren könnten, vergessen. Die Schulden-/Deflationsspirale wirkt zudem sehr korrosiv auf die Gesellschaften. Eine weitere Lehre aus den 1930ern, die viele offenbar vergessen haben: Austeritätspolitik bereitet Rechtsextremismus den Nährboden. Das war in den 1930er Jahren so, und genau so ist es heute.

Sie haben in Ihrer Jugend einige Sommer in Österreich verbracht, das sei wie eine Flucht aus der Enge des autoritären Griechenlands gewesen, sagten Sie unlängst.

Wir wurden damals in Bruno Kreiskys Österreich mit unglaublicher Solidarität und Großzügigkeit aufgenommen. Wenn ich daran denke, dass das Wiener Rathaus um ein Haar von den Rechtsaußen der Freiheitlichen Partei erobert worden wäre, oder wenn ich daran denke, dass das Präsidentenamt vielleicht bald an jemanden von dieser Partei gehen wird, der weder den Geist noch die Seele dieses Landes repräsentiert, dann macht mich das traurig und wütend.

Politik scheint derzeit ein Manövrieren zwischen viel Angst und wenig Hoffnung zu sein.

Im Moment dominiert auf dem europäischen Kontinent - aber nicht nur dort - vor allem eines: Angst. Aber wenn Sie mich fragen, woher ich persönlich Hoffnung schöpfe: Mit unserem Projekt DiEM25 wollen wir einen Anstoß zu einer Re-Demokratisierung Europas geben. Ich bin wenig überraschend Atheist, der aber den Glauben an die Vernunft nutzt, um die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu stärken. Auch wenn diese Hoffnung derzeit wider jede Evidenz keimt.

Yanis Varoufakis (geb. 24. März 1961 in Athen) ist ein griechischer Wirtschaftswissenschaftler, der 2015 sechs Monate lang griechischer Finanzminister war. Als Mitbegründer der politischen Bewegung DiEM25 war er diese Woche im Werk X in Wien zu Gast.