- © Luiza Puiu
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"Wiener Zeitung": Die Welt zerfällt, die Mitte hält nicht mehr, lautet eine Strophe des Gedichts "The Second Coming". Es wurde nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1919 vom irischen Dichter und Literaturnobelpreisträger William Butler Yeats verfasst, hat aber eine gespenstische Aktualität, nicht?

Ivan Krastev: So ist es. Nach dem Ende der Finanzkrise drifteten einige Gesellschaften - Griechenland, Spanien, Italien - nach links, andere nach rechts. Aber wir erleben auch im US-Vorwahlkampf ein Ausdünnen der politischen Mitte.

Welche Erklärung haben Sie dafür?

Das Problem mit der Mitte: Sie wird als das Territorium der politischen Eliten verstanden. Somit ist aus dem Zorn auf das Establishment ein Zorn auf die politische Mitte geworden. Der Aufstieg populistischer Bewegungen ist nichts Neues. Was aber neu ist: dass man die Menschen nicht mehr mit der Angst vor den Populisten mobilisieren kann. Was wir bei dieser Bundespräsidentenwahl beobachten konnten: In der Stichwahl standen zwei Kandidaten auf dem Stimmzettel, die nicht als Teil des Establishments verstanden wurden. Was ebenfalls interessant ist: Nicht mehr die Mitte, sondern die Extreme des politischen Spektrums werden als Parteien des Wandels verstanden, sowohl links als auch rechts. Die Mitte hingegen hat ihre Sprache verloren. Sie hat sich stets mit dem Versprechen empfohlen: "Mit uns seid ihr sicher." Das ist heute zwar ein guter Slogan für eine Kondom-Werbung, aber in einer Zeit des politischen Wandels ist das wahrlich kein gutes Verkaufsargument. Denn die Wähler wollen den Wandel, weil sie wissen, Sicherheit ist derzeit ohnehin nicht zu kriegen. Das Argument der politischen Mitte, dass es keine Alternative zu zentristischen Parteien gibt, radikalisiert - wie wir sehen - die Wählerinnen und Wähler.

Nach der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 schwang das Pendel zuerst nach links aus: In New York besetzen die Aktivisten von Occupy Wall Street Zuccotti Park, in Spanien formierte sich Podemos, in Griechenland wurde Syriza stark und die akademische Welt debattierte Thomas Pikettys Buch "Kapitalismus im 21. Jahrhundert". In vielen Ländern bog die Wählerschaft dann aber nach rechts ab. Warum?

Die Rechten haben, was die Wirtschaftspolitik betrifft, linke Positionen eingenommen. Sie geben sich Kapitalismus-kritisch, sie sind gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership, Anm.). Im Gegensatz zu den 1930er Jahren gibt es heute keinen großen ideologischen Unterschied zwischen Links und Rechtsaußen. Zweitens: Die sich verändernde Demografie treibt Rechtspopulisten Wähler zu. Ich nenne das die Angst der gefährdeten Majorität. Diese Mehrheit ist in Sorge, dass sie ihre Machtposition verliert, wenn die demografischen Trends weitergehen. Diese Leute sehen die Zuwanderung als eine Verschwörung von zwei Gruppen, nämlich der kosmopolitischen, urbanen Eliten und der tribal strukturierten Flüchtlinge. Aufgrund ihrer liberalen Ideen oder ihrer wirtschaftlichen Interessen sind die kosmopolitischen urbanen Eliten bereit, die Türen für Flüchtlinge zu öffnen. Hier gibt es aber einen großen Unterschied zwischen Links und Rechts: Die Linke sieht den Gegner in der politische Klasse und in den Wirtschaftseliten. Flüchtlinge sind für sie unterprivilegiert und schutzbedürftig. Das Zauberwort der Linken lautet Solidarität. Die Rechten wollen den kosmopolitischen urbanen Eliten ein Bekenntnis zur Idee des Nationalen abringen, sie wollen die kosmopolitischen Eliten gleichsam renationalisieren. Für sie müssen sich die globalen Eliten entscheiden: Sie können nicht in ihren urbanen Netzwerken aus Wien, Berlin, Brüssel oder Paris denken, sondern sie müssen sich deklarieren, ob sie Teil der Nation sein wollen.

Warum kommt die Sozialdemokratie mit der Herausforderung der Migration so schwer zurande?

Die Sozialdemokraten waren früher das Bollwerk gegen Rechtspopulismus, sie waren die Ersten, die gegen Rechtsextremismus aufgestanden sind. Heute tun sie das nur mehr zögerlich. Die Sozialdemokratie steht vor dem Problem, dass der Wohlfahrtsstaat, der Teil der sozialdemokratischen Identität ist, durch Zuwanderung zusätzlich unter Druck gerät. Und nun stehen die Sozialdemokraten vor der Frage: Wen sollen sie verteidigen und schützen? Die Sozialdemokraten sind zerrissen zwischen der Solidarität mit verwundbaren Menschen außerhalb der Grenzen und der Bewahrung der Rechte für die Deklassierten innerhalb der Grenzen. Es gibt also eine komplexe Gemengelage aus Protektionismus, dem Pro-Wohlfahrtsstaats-Sentiment der Linken und dem kulturellen Protektionismus der traditionellen Rechten. Dazu kommt, dass die Sozialdemokratie die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates als Teil der westeuropäischen Kultur versteht.

Wir sehen zudem ein immer stärkeres Auseinanderdriften von Stadt und Land.

Unsere Gesellschaften werden immer heterogener. Der Markt und das Internet haben daran großen Anteil. Früher war die Medienlandschaft weniger fragmentiert. Es gab ein, zwei Nachrichtensendungen im Hauptabendprogramm und die Menschen sahen dieselben Nachrichten und interpretierten sie dann unterschiedlich. Heute bekommt jeder die auf ihn zugeschnittenen Nachrichten. Dazu kommt, dass die Bürger in den ländlichen Regionen sich nicht repräsentiert fühlen, weil sie der Meinung sind, dass die Macht in den Städten ruht. Die Schere ist übrigens keine Frage des Einkommens. Einige dieser ländlichen Regionen - vor allem in Österreich - sind recht wohlhabend. Aber die Menschen, die in diesen Regionen leben, haben das Gefühl, dass sie von den Städtern nicht verstanden werden. Zudem gibt es immer weniger Meinungsaustausch zwischen den Generationen. In den sozialen Medien wird zwar sehr aktiv kommuniziert, aber man bleibt unter sich. Wir verlieren immer stärker das Wissen über Menschen, die nicht so sind wie wir. Der Staat hätte hier eine wichtige Rolle zu spielen. Der Unterschied zwischen dem Staat einerseits und dem Netz und dem Markt andererseits ist, dass das Internet und der Markt unsere natürlichen Präferenzen verstärken. Und unsere natürliche Prävalenz ist eben, dass wir innerhalb unserer sozialen Gruppen und Altersgruppen kommunizieren. Der Staat hingegen drängt Menschen unterschiedlicher sozialer Gruppen zusammen: etwa in der Armee oder im staatlichen Schulsystem. Das Streben von staatlichen Organisationen ist, die soziale Durchmischung der Bürger zu erreichen.