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Die bröckelnde Mitte, der Aufstieg der Populisten und die Arroganz der Eliten

Von Thomas Seifert

Politik

Das stetige soziale Auseinanderdriften führt nun zur Schwächung der westeuropäischen Gesellschaften.


"Wiener Zeitung": Die Welt zerfällt, die Mitte hält nicht mehr, lautet eine Strophe des Gedichts "The Second Coming". Es wurde nach dem Ende des Ersten Weltkriegs im Jahr 1919 vom irischen Dichter und Literaturnobelpreisträger William Butler Yeats verfasst, hat aber eine gespenstische Aktualität, nicht?

Ivan Krastev: So ist es. Nach dem Ende der Finanzkrise drifteten einige Gesellschaften - Griechenland, Spanien, Italien - nach links, andere nach rechts. Aber wir erleben auch im US-Vorwahlkampf ein Ausdünnen der politischen Mitte.

Welche Erklärung haben Sie dafür?

Das Problem mit der Mitte: Sie wird als das Territorium der politischen Eliten verstanden. Somit ist aus dem Zorn auf das Establishment ein Zorn auf die politische Mitte geworden. Der Aufstieg populistischer Bewegungen ist nichts Neues. Was aber neu ist: dass man die Menschen nicht mehr mit der Angst vor den Populisten mobilisieren kann. Was wir bei dieser Bundespräsidentenwahl beobachten konnten: In der Stichwahl standen zwei Kandidaten auf dem Stimmzettel, die nicht als Teil des Establishments verstanden wurden. Was ebenfalls interessant ist: Nicht mehr die Mitte, sondern die Extreme des politischen Spektrums werden als Parteien des Wandels verstanden, sowohl links als auch rechts. Die Mitte hingegen hat ihre Sprache verloren. Sie hat sich stets mit dem Versprechen empfohlen: "Mit uns seid ihr sicher." Das ist heute zwar ein guter Slogan für eine Kondom-Werbung, aber in einer Zeit des politischen Wandels ist das wahrlich kein gutes Verkaufsargument. Denn die Wähler wollen den Wandel, weil sie wissen, Sicherheit ist derzeit ohnehin nicht zu kriegen. Das Argument der politischen Mitte, dass es keine Alternative zu zentristischen Parteien gibt, radikalisiert - wie wir sehen - die Wählerinnen und Wähler.

Nach der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 schwang das Pendel zuerst nach links aus: In New York besetzen die Aktivisten von Occupy Wall Street Zuccotti Park, in Spanien formierte sich Podemos, in Griechenland wurde Syriza stark und die akademische Welt debattierte Thomas Pikettys Buch "Kapitalismus im 21. Jahrhundert". In vielen Ländern bog die Wählerschaft dann aber nach rechts ab. Warum?

Die Rechten haben, was die Wirtschaftspolitik betrifft, linke Positionen eingenommen. Sie geben sich Kapitalismus-kritisch, sie sind gegen das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership, Anm.). Im Gegensatz zu den 1930er Jahren gibt es heute keinen großen ideologischen Unterschied zwischen Links und Rechtsaußen. Zweitens: Die sich verändernde Demografie treibt Rechtspopulisten Wähler zu. Ich nenne das die Angst der gefährdeten Majorität. Diese Mehrheit ist in Sorge, dass sie ihre Machtposition verliert, wenn die demografischen Trends weitergehen. Diese Leute sehen die Zuwanderung als eine Verschwörung von zwei Gruppen, nämlich der kosmopolitischen, urbanen Eliten und der tribal strukturierten Flüchtlinge. Aufgrund ihrer liberalen Ideen oder ihrer wirtschaftlichen Interessen sind die kosmopolitischen urbanen Eliten bereit, die Türen für Flüchtlinge zu öffnen. Hier gibt es aber einen großen Unterschied zwischen Links und Rechts: Die Linke sieht den Gegner in der politische Klasse und in den Wirtschaftseliten. Flüchtlinge sind für sie unterprivilegiert und schutzbedürftig. Das Zauberwort der Linken lautet Solidarität. Die Rechten wollen den kosmopolitischen urbanen Eliten ein Bekenntnis zur Idee des Nationalen abringen, sie wollen die kosmopolitischen Eliten gleichsam renationalisieren. Für sie müssen sich die globalen Eliten entscheiden: Sie können nicht in ihren urbanen Netzwerken aus Wien, Berlin, Brüssel oder Paris denken, sondern sie müssen sich deklarieren, ob sie Teil der Nation sein wollen.

Warum kommt die Sozialdemokratie mit der Herausforderung der Migration so schwer zurande?

Die Sozialdemokraten waren früher das Bollwerk gegen Rechtspopulismus, sie waren die Ersten, die gegen Rechtsextremismus aufgestanden sind. Heute tun sie das nur mehr zögerlich. Die Sozialdemokratie steht vor dem Problem, dass der Wohlfahrtsstaat, der Teil der sozialdemokratischen Identität ist, durch Zuwanderung zusätzlich unter Druck gerät. Und nun stehen die Sozialdemokraten vor der Frage: Wen sollen sie verteidigen und schützen? Die Sozialdemokraten sind zerrissen zwischen der Solidarität mit verwundbaren Menschen außerhalb der Grenzen und der Bewahrung der Rechte für die Deklassierten innerhalb der Grenzen. Es gibt also eine komplexe Gemengelage aus Protektionismus, dem Pro-Wohlfahrtsstaats-Sentiment der Linken und dem kulturellen Protektionismus der traditionellen Rechten. Dazu kommt, dass die Sozialdemokratie die Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates als Teil der westeuropäischen Kultur versteht.

Wir sehen zudem ein immer stärkeres Auseinanderdriften von Stadt und Land.

Unsere Gesellschaften werden immer heterogener. Der Markt und das Internet haben daran großen Anteil. Früher war die Medienlandschaft weniger fragmentiert. Es gab ein, zwei Nachrichtensendungen im Hauptabendprogramm und die Menschen sahen dieselben Nachrichten und interpretierten sie dann unterschiedlich. Heute bekommt jeder die auf ihn zugeschnittenen Nachrichten. Dazu kommt, dass die Bürger in den ländlichen Regionen sich nicht repräsentiert fühlen, weil sie der Meinung sind, dass die Macht in den Städten ruht. Die Schere ist übrigens keine Frage des Einkommens. Einige dieser ländlichen Regionen - vor allem in Österreich - sind recht wohlhabend. Aber die Menschen, die in diesen Regionen leben, haben das Gefühl, dass sie von den Städtern nicht verstanden werden. Zudem gibt es immer weniger Meinungsaustausch zwischen den Generationen. In den sozialen Medien wird zwar sehr aktiv kommuniziert, aber man bleibt unter sich. Wir verlieren immer stärker das Wissen über Menschen, die nicht so sind wie wir. Der Staat hätte hier eine wichtige Rolle zu spielen. Der Unterschied zwischen dem Staat einerseits und dem Netz und dem Markt andererseits ist, dass das Internet und der Markt unsere natürlichen Präferenzen verstärken. Und unsere natürliche Prävalenz ist eben, dass wir innerhalb unserer sozialen Gruppen und Altersgruppen kommunizieren. Der Staat hingegen drängt Menschen unterschiedlicher sozialer Gruppen zusammen: etwa in der Armee oder im staatlichen Schulsystem. Das Streben von staatlichen Organisationen ist, die soziale Durchmischung der Bürger zu erreichen.

Für die Rechtspopulisten ist die "Refugees Welcome"-Kultur ein Graus. Warum?

Es geht nicht um einen Mangel an Solidarität, sondern um einen Clash der Solidarität. Die Frage der Rechtspopulisten lautet: "Warum kümmert ihr euch um diese Flüchtlinge aus Syrien, und nicht um unsere Leut‘?" Die urbanen Eliten geben darauf eine aus meiner Sicht sehr legitime Antwort: Sie sagen, wir sollten uns doch um die Allerärmsten kümmern. Die Anhänger der Rechtspopulisten sehen das anders: Zuerst kommt die Familie, dann die Bekannten, dann die Landsleute und dann lange nichts. Ich gebe Ihnen ein Beispiel einer interessanten Studie aus den Jahren 2009 und 2010, als um die Finanzhilfe für Griechenland gerungen wurde. Drei Wissenschafter testeten die Position der Öffentlichkeit ab und fragten die Menschen, ob sie für oder gegen die Hilfspakete für Griechenland sind. Sie fragten auch, für welche Hilfsorganisation die Befragten spenden wollen: für Nachbarschaftsprojekte oder die Welthungerhilfe. Das Ergebnis: Diejenigen, die bereit waren, an die Welthungerhilfe zu spenden, waren auch die, die Griechenlands unterstützen wollten. Es zeigte sich: Die einen haben die Welt im Blick, die anderen die Nation und das Lokale. Der Vorwurf der FPÖ an die globalen Eliten lautet ja: Ihr seid nicht loyal. Ihr habt keine Familien. Ihr könnt nicht in einer Welt leben, in der Euch alle gleich nah oder gleich entfernt stehen. Auf der anderen Seite leben Städter ständig unter Fremden. Nachbarn ziehen im Wohnhaus ein oder aus. Es geht bei dieser Frage also nicht nur um Politik, sondern es geht darum, wie man Gemeinschaft definiert.

Was sollten die urbanen Eliten also tun?

Es ist ja nicht so, dass die österreichischen Städter sich nicht um die Armen kümmern wollen. Aber sie glauben daran, dass der Staat sich kümmern soll. Diese Bürger zahlen hohe Steuern und haben das Gefühl, dass sie sich um diese Menschen ja nicht so sehr kümmern müssen, weil der Wohlfahrtsstaat das ja erledigt. Aber viele Menschen, die sich als Modernisierungsverlierer verstehen und denen der Staat ja ohnehin auch hilft, waren regelrecht schockiert über den Überschwang an positiven Emotionen, die den Flüchtlingen von den Städtern entgegengebracht wurden. Viele österreichische oder deutsche Bürger, die es auch nicht so toll erwischt haben, beschlich das Gefühl, dass ihnen diese positive Emotion von Seiten der "Refugees Welcome"-Städter versagt bleibt. Denn auch wenn sie Unterstützung vom Staat oder der Gemeinde bekommen, so fehlt der menschliche Aspekt. Warum zeigt man diesen Menschen nicht, dass es nicht nur um Transferleistungen geht, sondern, dass man auch mit ihnen sprechen will, dass man genauso an ihrem Leben, ihrem Alltag interessiert ist, wie am Alltag der Flüchtlinge. Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Menschen sind darauf trainiert, Veränderungen zu erkennen. Wir glauben, nur eine Gesellschaft die sich verändert, ist eine Gesellschaft, über die sich lohnt zu berichten. Faktum ist aber, dass etwa 70 Prozent der Franzosen weniger als 30 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem sie geboren sind leben, arbeiten und am Schluss sterben. Da sehe ich einen blinden Fleck. Daher lautet meine Interpretation: Den Wählern des FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer geht es nicht um die Macht für den von ihnen unterstützten Kandidaten. Sondern ihre Stimme für Hofer war ein Schrei nach Aufmerksamkeit. Die zentrale Frage ist daher: Wie kann man ein verwurzelter kosmopolitischer Städter sein? Wie kann man das urbane Leben genießen und gleichzeitig nicht Menschen vernachlässigen, die ein anderes Leben führen?

Wie kann das Gemeinsame gestärkt werden?

Wir haben heute kaum mehr gemeinsame Erfahrungen. Denken wir an die Armee: Für Menschen aus den Städten ist die Zeit in der Armee furchtbar, für Menschen aus dem Dorf ist sie aber vielleicht eine tolle Zeit. Denn die Menschen aus dem Dorf kommen in dieser Zeit mit anderen Menschen zusammen, sie kommen in eine andere Umgebung.

In den Städten gibt es eine soziale Entmischung allein wegen der steigenden Immobilienpreise.

Das ist ein echtes Problem. Wenn man nur mit Menschen spricht, die gleicher Ansicht sind, dann werden ihre Ansichten radikaler. Wenn man ein Liberaler ist und nur mehr mit Liberalen spricht, dann wird man noch liberaler. Wenn man aber konservativ ist und mit anderen Konservativen Kontakt hat, wird man noch konservativer. Das ist ein weiterer Grund, warum die Mitte nicht mehr hält. Die politische Mitte kann nur in einer heterogenen Gesellschaft florieren. Sie ist dort, wo verschiedene Interessensgruppen aufeinandertreffen. Die Mitte moderiert, das führt zu gemäßigten Gedanken.

In den USA - Stichwort: Donald Trump - ist die Lage noch dramatischer...

Vor 50 Jahren lebten mehr als 50 Prozent der Amerikaner in Wahlbezirken, wo ein Demokrat oder ein Republikaner eine 50-Prozent-Chance hatte, gewählt zu werden. Heute leben 70 Prozent der US-Wähler in Distrikten, die Ein-Parteien-Distrikte sind, wo also ein Kandidat mehr als 70 Prozent der Stimmen bekommt. Es gibt Distrikte, in denen man keinen einzigen Demokraten oder Republikaner treffen oder mit ihm diskutieren kann. Wie soll man gegenüber Menschen tolerant sein, die man noch nie getroffen hat?

In den USA spielen soziale Medien im Wahlkampf eine größere Rolle als in Europa.

Das ist eine Krux. Ein österreichischer Informatiker hat mir von folgendem Projekt erzählt: Wenn sie auf Facebook einen Artikel lesen, dann schlägt ihnen der Algorithmus weitere Artikel vor, die in dieselbe Kerbe schlagen. Dieser Software-Experte schlägt nun vor, dass man eben eine andere Perspektive als die eben gelesene angeboten bekommt. Das würde uns helfen, unsere Perspektive zu ändern. Kennen Sie "Dialog im Dunkeln"? Da werden im Wiener Schottenstift die Sehenden von Blinden in einem völlig dunklen Raum geführt. Denn die Blinden wissen, wie man sich im Dunkeln zurechtfindet, die Sehenden nicht. Wir müssen solche Räume auch gesellschaftlich schaffen: Rechtspopulistische Wähler führen liberale Bobos durch ihre Welt und Bobos nehmen Hofer- und Strache-Wähler in ihre Welt mit.

Der sozialdemokratische Europaabgeordnete Joe Weidenholzer kritisierte in einem Essay in der "Zeit" die Arroganz der urbanen Eliten rechtspopulistischen Wählern gegenüber. Sie würden lieber die Rechtschreibfehler dieser Leute in den Online-Foren kritisieren, anstatt sich mit den Inhalten auseinanderzusetzen.

Da ist etwas Wahres dran. Die heutigen Eliten - vor allem die kreative Klasse und die IT-Community - findet, sie hat sich ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung hart erarbeitet und schuldet niemandem etwas. Da sehe ich einen klaren Unterschied zur aristokratischen Elite: Diese Leute wussten, dass sie höchst privilegiert sind. Und dass sie Opfer bringen müssen. Im Ersten Weltkrieg waren die Söhne aus höherem Haus die Ersten, die an die vorderste Front gingen. Wenn es hingegen heute zu Problemen kommt, sind die Eliten vermutlich die Ersten, die den Exit wählen. Das macht die Normalbürger misstrauisch gegenüber den Eliten. Wenn der Feudalherr das Land verließ, verlor er seinen Grund und Boden. Der moderne Kapitalist braucht nur sein Geld auf ein Auslandskonto zu überweisen und ist weg.

Thema Brexit: Das Referendum am 23. Juni wird die Populisten in Großbritannien mobilisieren.

Referenden sind keine Lösung. Sie gefährden das europäische Projekt, weil unterschiedliche Referenden in verschiedenen Ländern sich vielleicht eines Tages diametral gegenüberstehen. Somit müssen wir das regulieren. Wenn wir das nicht tun, dann ist das so, als wenn man jemandem einen Revolver in die Hand drückt, der ohnehin suizidale Tendenzen aufweist.

Ivan Krastev (geb. 1965 in Lukovit, Bulgarien) ist einer der einflussreichsten Politologen Europas. Er leitet das Centre for Liberal Strategies in Sofia und forscht am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien.