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"Es gleicht einer Beziehung zur Mafia"

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Meinungsforscher Lew Gudkow spricht über Propaganda in Russland und Putins hohe Beliebtheitswerte.


"Wiener Zeitung":Herr Gudkow, 2011 ist es in Russland nach den Parlamentswahlen zu großen Protesten gekommen. In diesem Jahr gibt es wieder Parlamentswahlen, aber wohl keine Proteste. Wie kann man diesen Umschwung erklären?

LewGudkow: Der Kreml hat auf die Proteste mit Verhaftungen und massiven Repressionen reagiert. Das hat die Bevölkerung demoralisiert. Es ist zudem nicht gelungen, diese Proteste in eine effektive, politische Bewegung umzuformen. Vor dem Hintergrund der Annexion der Krim und einer aggressiven, anti-ukrainischen und anti-westlichen Propaganda ist es zu einer patriotischen, chauvinistischen Konsolidierung in der Gesellschaft gekommen. Ansprüche gegen das Regime wurden zur Seite geschoben. Noch nie haben wir ein so niedriges Protestpotenzial gemessen wie 2014 und 2015 - und das bei einem Absinken des Lebensstandards.

Diese Wirtschaftskrise führt nicht dazu, dass das Protestpotenzial wächst?

Nein. Die Leute haben noch die 1990er Jahre im Gedächtnis, als die Inflation mehr als 2000 Prozent betragen hat (1993 betrug sie 875 Prozent, Anm.). Die Wirtschaftslage ist schlecht, aber keine Katastrophe, zuletzt lag die Inflation bei 15 bis 16 Prozent. Die Russen hoffen, dass die Krise wieder so schnell weggeht, wie sie gekommen ist. Aber nur 20 Prozent von ihnen sind sich bewusst, dass diese Krise im Gegensatz zu anderen Wirtschaftskrisen eine strukturelle ist.

Trotzdem gibt es Proteste auf lokaler Ebene, wie zuletzt der Protest der Lkw-Fahrer gegen eine neue Maut.

Lokale Proteste werden immer wieder auftauchen und sie werden zunehmen. Aber sie haben nur vereinzelten Charakter. Sie vereinigen sich nicht zu einer allgemeinen Bewegung. Die anti-westliche Propaganda führt außerdem dazu, dass sich die Bevölkerung mit dem Machtapparat solidarisiert.

Im Westen ist man es gewohnt, das alles der Propaganda zuzuschreiben. Ist das wirklich so?

Die Propaganda arbeitet mit den Gefühlen des Minderwertigkeitskomplexes, des Traumas vom Zerfall der Sowjetunion. Sie überzeugt die Leute davon, dass die Einführung der westlichen Sanktionen ein Beleg dafür ist, dass Russland als starke Macht wieder auf der Weltbühne zurück ist. Die Propaganda gibt den Leuten ihre Selbstachtung zurück. Das ist ein wichtiger Faktor: das Gefühl, wieder zu einer Supermacht zu gehören. Gewissermaßen haben wir es hier mit einer Reanimierung des totalitären Bewusstseins zu tun.

Gibt es Unterschiede bei den Generationen?

Die jungen Menschen sind stärker für Putin. Sie sind mit den Umständen zufrieden. Es gibt wenig Arbeitslosigkeit unter den Jungen und sie verdienen auch besser als die Alten. Unzufrieden sind eher Menschen um die 50. Sie sehen für sich keine Perspektive. Aber viele sehen nun mal keinen Ausweg, auch, weil die Opposition derart diskreditiert ist.

Warum?

Die Leute sind nicht bereit, einen Führer der Opposition zu unterstützen. Die Propaganda ist sehr geschickt darin, von ihnen ein Bild aus Populisten, Abenteurern und Demagogen zu malen, die nur vom Westen gekauft sind. Die andere Seite ist die, dass die Opposition ja selbst wirklich hilflos ist. Die handelnden Akteure sind unfähig, eine Koalition zu bilden und ihre Konflikte untereinander beizulegen.

Der Publizist Andrej Kolesnikow hat den Krieg als ein ständiges Hintergrundrauschen in den russischen Medien beschrieben. Sehen Sie das auch so?

Seit zwei Jahren wird die Gesellschaft in einem Zustand der ständigen Mobilisierung gehalten. Immer gibt es neue Feinde. Zuerst waren es die "Nazis" oder "Faschisten" in der Ukraine, dann ging es um Syrien, dann um die Türkei. Gleichzeitig wird ständig anti-westliche Stimmung geschürt. Gar nicht zu sprechen vom Hass gegen die Opposition, die "fünfte Kolonne". Die Bevölkerung wird ständig eingeschworen gegen einen inneren Feind, der von einem äußeren Feind gesteuert wird.

Sie haben schon viele Perioden der wechselvollen russischen Zeitgeschichte erlebt - wie schnell kann so eine Stimmung auch wieder umschlagen?

Diese Propaganda wird lange nachwirken. Selbst dann, wenn sich die politische Situation verändern sollte. Ich kann nicht sagen, dass die Propaganda die Menschen überzeugt, aber sie zerstört einen gewissen Idealismus, das Vertrauen in europäische Werte und ein Rechtssystem, das gerecht ist. Und den Glauben daran, dass es irgendwo auch nicht-korrupte Politiker geben kann. Alle sind schlecht, wir, die anderen, auch Putin ist ein Mafioso, aber so ist nun mal das Leben.

Umfragen sehen Putin bei Zustimmungsraten von 80 Prozent.

Es ist eher so etwas wie eine Beziehung zur Mafia. Ich stelle mir das wie in Süditalien vor: Man kann zum Paten stehen, wie man will, aber er kann dich zumindest vor den anderen Banditen beschützen. Der sowjetische Dramaturg Jewgenij Schwarz hat das Stück "Der Drache" geschrieben. Da kommt ein Ritter und fragt: Wie könnt ihr das nur unter diesem Drachen aushalten? Und die Leute sagen: Na ja, er ist wenigstens unser Drache.

Sehen Sie das alles auch im Kontext eines illiberalen Trends, den es gerade weltweit gibt? Insbesondere in den USA und in Europa.

In den USA und in Europa gibt es aber eine politische und moralische Kultur. Aber wir in Russland haben es mit einem Rückfall in die sowjetische Vergangenheit zu tun. Woher kommt dieser massenhafte Zynismus? Aus der Notwendigkeit heraus, sich an die Willkür eines repressiven und korrupten Staates anzupassen. Dass man sich bewusst ist, dass man nichts verändern kann, aber trotzdem irgendwie leben muss.

Welche Prognose haben Sie für die Parlamentswahlen im Herbst?

Sie sind völlig unter Kontrolle. Es wird keine Überraschungen geben, weniger Wahlfälschung. Aber nur dank eines Faktors: weil das System schon zuvor unliebsame Kandidaten und Parteien herausgefiltert hat. Und diejenigen, die unzufrieden sind, werden erst gar nicht zu Wahl gehen. Der Machtapparat arbeitet darauf hin, dass es eine niedrige Wahlbeteiligung geben wird. Nach unseren Umfragen wird die kremlnahe Partei "Einiges Russland" auf 63 Prozent kommen.

Zur Person

Lew Gudkow

ist seit dem Jahr 2006 Direktor des renommierten russischen Meinungsforschungsinstituts "Lewada-Zentrum". An der Hochschule der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Moskau lehrt der 69-Jährige bis heute Soziologie.