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"Mauern können gar nichts ausrichten"

Von Gerhard Lechner

Politik

Altertumsforscher Rainer Vollkommer sieht Parallelen zwischen der Zeit der Völkerwanderung und der heutigen Krise. Gescheitert sei das Römische Reich unter anderem deshalb, weil es von seiner erfolgreichen Integrationspolitik abging.


"Wiener Zeitung":Herr Vollkommer, in der Flüchtlingskrise fiel in den Diskussionen immer wieder das Wort von der "Völkerwanderung". Ist der Vergleich mit einem Geschehen, das zum Ende des Weströmischen Reiches geführt hat, nicht haltlos übertrieben?

Rainer Vollkommer: Natürlich ist die Situation heute eine gänzlich andere. Wir leben in einer völlig anderen Welt als die alten Römer. Dennoch gibt es gewisse Ähnlichkeiten.

Welche denn?

Wenn man sich die Struktur des Römischen Reiches ansieht, und zwar gerade in den Zeiten der sogenannten Völkerwanderung, dann kann man sehen, dass es viele Analogien gibt, vor allem zur heutigen Lage der EU. Das Imperium Romanum hatte sich nämlich in spätrömischer Zeit, also etwa nach 300 n. Chr., gewandelt. Die Verwaltung wurde immer mehr aufgebläht. Man schaffte mit den Diözesen zusätzliche Verwaltungseinheiten, die verschiedene Provinzen zusammenfassten, was noch mehr Verwaltung zur Folge hatte. Und dann gab es ja noch die Teilung in einen West- und einen Ostteil.

Warum hat man all das gemacht?

Weil man Angst hatte, dass man das Reich nicht mehr so wie früher unter Kontrolle hat. Man wollte es durch mehr Verwaltung weiter im Griff behalten. Das Ergebnis war aber, dass das Reich dann zu kleinteilig war. Der Kaiser wurde mehr und mehr entrückt, die hohen Beamten verloren den Kontakt zur Basis.

Und Sie sehen im heutigen Europa eine ähnliche Entwicklung?

Auch unsere Politiker sind heute immer stärker abgeschirmt. Wir leben darüber hinaus in einer immer komplexer, globalisierter werdenden Welt. Die EU hat sich in den letzten Jahren erweitert. Da ist es nur logisch, dass man versucht, die Probleme über mehr Verwaltung in den Griff zu bekommen.

Gibt es sonst noch Parallelen?

Ja. Eine der großen Stärken des Römischen Reiches war das römische Recht - wir profitieren ja heute noch davon. Diokletian etwa erstellte im Jahr 301 über 1200 neue Rechtssätze, etwa um Familie und Ehe zu festigen. Es gab immer mehr Gesetze, Verordnungen und Gerichtsurteile. Um die Flut zu bewältigen, schuf man wieder neue Gesetze, die beurteilen sollten, welche Gesetze am ehesten der Wirklichkeit entsprechen. Dazu kam dann noch die Politik von Brot und Spielen. Die Kaiser versuchten, das Volk bei Laune zu halten. Es gab regelmäßige Geldspenden, Verteilungen von Lebensmitteln und eben die Spiele. Die werden auch immer häufiger abgehalten - am Anfang nur zu hohen Festlichkeiten, gegen Ende des Römerreiches fanden über die Hälfte des Jahres Spiele statt. Es gab freien Eintritt bei Wagenrennen, man konnte die riesigen Bäder oder die Theater gratis besuchen - alles war vom Kaiser oder von den Reichen gesponsert. Damit kam das Volk aber auch immer mehr in Versuchung, sich nicht mehr mit wichtigen öffentlichen Dingen wie Politik zu beschäftigen.

Hatte man dafür im alten Rom nicht eine Oberschicht?

Hatte man, ja - aber die war vor allem an ihren Privilegien interessiert und widmete sich ihren Ränkespielen um die Macht. Die Situation in den Städten löste übrigens auch eine Landflucht aus. Viele Bauern fragten sich, warum soll ich so hart arbeiten, wenn ich es mir in den Städten gutgehen lassen kann. Sie zogen in die Zentren. Das verlassene Land fiel an Großgrundbesitzer.

Der deutsche Ex-Außenminister Guido Westerwelle hat sich ja einmal für seinen Satz von der "spätrömischen Dekadenz" rechtfertigen müssen. Nun gibt es Stimmen, die behaupten, dass das späte Römerreich von den Zeitgenossen mitnichten als eine Zeit des Verfalls wahrgenommen wurde, sondern als eine Erfolgsgeschichte. Die großen Krisen habe es vorher, unter den Soldatenkaisern gegeben. Im späten Römischen Reich aber habe man den Abstieg nicht gespürt. Ist da was dran?

Ja, allerdings. Es war tatsächlich eine Erfolgsgeschichte. Zwar ging die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Aber auch den Armen ging es letztlich besser als je zuvor. Es blühte ja alles auf. Es gab für jeden Theater umsonst, Essen umsonst, Kultur umsonst, Bäder umsonst, die Personen werden übrigens auch immer älter - alles positive Indikatoren. Auch die Literatur blühte, besonders im 4. und 5. Jahrhundert.

War es das, was die Migrationsströme angezogen hat? Oder war es doch eher der Druck von außen, beispielsweise der Hunnen?

Die Völkerwanderung begann im 4. Jahrhundert. Das war eine Zeit, in der das Klima allerbeste Bedingungen für Ernten bot. Im germanischen Raum wuchs die Bevölkerung stark an.

Bei den Römern auch?

Nein, bei den Römern eben nicht, und zwar weil die Römer immer mehr zu einer städtischen Gesellschaft wurden, die aufgrund der gesellschaftspolitischen Situation keine großen Zukunftsängste hatte. Es sind ja immer eher die Bauern, die viele Kinder bekommen - in der Hoffnung, dass die Kinder die Eltern einmal versorgen werden. Das war im alten Rom nicht nötig.

Die germanische Gesellschaft war aber bäuerlich.

Ja, die Germanen lebten in von Wäldern umgebenen Dörfern. Wenn dann die Bevölkerung ansteigt, entsteht automatisch eine Auswanderungswelle. Und dann gab es ja auch Kontakte zum Römischen Reich. Man sah, dass es denen dort so blendend geht - das war ein zusätzlicher Anreiz zur Auswanderung. Die Hunnen spielen natürlich auch eine Rolle. Man darf aber nicht vergessen, dass die Römer auch einen folgenschweren Fehler begingen.

Nämlich?

Nämlich mit der Politik der Integration, wie man es heute nennen würde, zu brechen. 376 hat man mit den Westgoten erstmals Germanen ins Reich aufgenommen, ohne ihnen die Chance zu geben, römische Bürger zu werden. Diese Politik der Integration, die Kaiser Caracalla 212 begonnen hatte, war ja sehr erfolgreich. Nunmehr behandelte man die Westgoten, und bald auch andere germanische Stämme, nur noch als Verbündete - als Verbündete mit der Verpflichtung, fürs Reich zu kämpfen. Man integrierte sie jetzt nicht mehr, sondern man versuchte, sie über Bündnissysteme einzubinden.

Vorher hat man sie integriert?

Vorher hat man sie entweder abgewehrt oder integriert. Wenn Germanen 25 Jahre in der römischen Armee gedient hatten, bekamen sie das Bürgerrecht. Von diesem Zeitpunkt an galt das nicht mehr. Und es ist natürlich etwas anderes, ob Sie dazugehören oder bloß Verbündete sind. Das war ein großer Fehler, der sich verhängnisvoll ausgewirkt hat. In der Endphase des Weströmischen Reiches bestand das Heer überwiegend aus Germanen. Das Problem war, dass die immer weniger integriert waren. Sie haben nie die römische Identität angenommen. Kein Wunder: Sie wurden beispielsweise schlechter bezahlt als reguläre römische Soldaten. Der Anführer der Westgoten, Alarich, hatte sich darüber aufgeregt, wollte mehr Sold für seine Kämpfer und Niederlassungsrecht in Italien. Er wurde aber von den Römern jahrelang hingehalten - so lange, bis er Rom plündern ließ. Die herrschende Klasse in Rom war am Ende in erster Linie mit Streitereien und Intrigen beschäftigt. Schließlich löste sich das Reich einfach auf.

Wo genau sehen Sie da die Parallelen zur heutigen Zeit? In so einer dramatischen Lage scheint die EU ja nicht zu sein.

Nun, die Gesetzesflut erinnert schon ans alte Rom, ebenso wie die ständigen Streitigkeiten der einzelnen Akteure in der EU, die die Union zunehmend handlungsunfähig machen. Das betrifft vor allem auch die Migrationsproblematik. Mit der hat man sich lange kaum auseinandergesetzt, obwohl die Probleme schon lange Zeit existieren. Es geht dabei ja nicht nur um Syrien oder Afghanistan. Es geht um ganz West- und Nordafrika, und auch um viele andere Regionen. Millionen Menschen werden sich in den nächsten Jahren auf den Weg machen.

Und was soll Europa jetzt tun? Zäune bauen?

Nein. Mauern können da gar nichts ausrichten - heute, wo wir ganz andere Verkehrs- und Kommunikationsmöglichkeiten haben, noch weniger wie damals. Dieses ständige Streiten um lächerlich kleine Flüchtlingskontingente, dieses sich Abschotten hilft doch nicht. Man muss das Problem eben so gut es geht an der Wurzel packen. Man könnte etwa den Waffenhandel reduzieren und sich darum bemühen, dass nicht noch mehr Länder zum Pulverfass werden. Auch die Entwicklungshilfe, die oft mehr behindert als fördert, müsste man komplett ändern. Bei all dem dürften die Politiker der einzelnen EU-Staaten nicht mehr derart blockieren. Sie müssten zusammenarbeiten. Danach sieht es im heutigen Europa der nationalen Egoismen aber nicht gerade aus.

Rainer Vollkommer ist klassischer Archäologe und Altertumsforscher. Der 56-Jährige veröffentlichte unter anderem Publikationen über das antike Griechenland und das römische Weltreich. Seit 2011 leitet er das Liechtensteinische Landesmuseum in Vaduz.