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"Eingestehen, dass die EU erschöpft ist"

Von Saskia Blatakes

Politik
Professorin Ulrike Guérot ist Gründerin des European Democracy Lab in Berlin und leitet das Department für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Universität Krems.
© Stanislav Jenis

Die Politologin Ulrike Guérot erklärt, warum die politischen Ränder immer beliebter werden.


"Wiener Zeitung": Euroskeptizismus, Demokratiedefizit, Damokles-Schwert Brexit - die EU ist nicht erst seit gestern in der Krise. Wo bleibt der Plan B?

Europa ruht sich aus: Auch die europäische Verwaltung erscheint vielen Bürgern nicht besonders effektiv.
© Creative Commons - Brbbl

Ulrike Guérot: Der ist im Kommen. Wir merken, dass diese EU, wie wir sie konzipiert haben - als Vereinigte Staaten von Europa - nicht mehr funktioniert. Weder als Narrativ, noch institutionell, noch politisch. Der Ruf nach einem anderen Europa ist ziemlich neu, vielleicht zwei Jahre alt. Erinnern wir uns, dass sich bis vor kurzem jede Diskussion über die EU um die Fragen drehte: Wollen wir mehr oder weniger Europa? Austritt oder Vertiefung? Aber die Frage nach einem anderen Europa gab es nicht. Erst mal braucht es die Bereitschaft des EU-Systems, einzugestehen, dass die Union erschöpft ist und dass wir wirklich ganz neu nachdenken müssen.

Ist von den Regierungschefs, die durch den EU-Rat eine dominierende Rolle spielen, wirklich zu erwarten, dass sie die derzeitige EU als gescheitert deklarieren?

Das System gehört auf den Prüfstein. Das heißt auch, Fehler einzugestehen. Dazu sind die aktuellen Politiker nicht in der Lage oder wollen es nicht. Das gilt auch für die meisten EU-Parlamentarier, die Leute von der Kommission und EU-Ratspräsident Donald Tusk. Deshalb liegt es zurzeit bei den politischen Rändern, Fehler aufzuzeigen. Ein konkretes Beispiel: Alle sind unzufrieden mit "Juncker-Lex". Wir haben hier ein System, das keine öffentlichen Güter produziert und wo im großen Stil Steuern hinterzogen werden. Dazu sollte es im Europäischen Parlament einen Untersuchungsausschuss geben. Eigentlich normales Procedere. Aber weil der Antrag von den rechten Populisten kam, hat ihm keine der etablierten Parteien zugestimmt. Es wird also keinen Untersuchungsausschuss geben. Das heißt, das Gute zu wollen, wird von den politischen Klassen der Mitte nicht mehr mitgetragen, weil es ihnen peinlich ist.

Die Wähler strafen die politische Mitte ab, jüngstes Beispiel ist die Präsidentschaftswahl in Österreich.

Ja, das alte Rechts-Links-Schema existiert nicht mehr. Das liegt daran, dass wir in den meisten Ländern Koalitionsregierungen und eine politische Mitte haben, wo sich Mitte-Links und Mitte-Rechts nicht mehr unterscheiden lassen. Das Problem ist, dass wir in Europa nie Links und Rechts hatten, sondern eine Trilogie aus Rat, Parlament und Kommission. Also eine institutionelle Logik, keine politische. Das Europäische Parlament müsste den Rat überstimmen, kann das aber nur mit Zweidrittel-Mehrheit, weswegen die großen Parteien dort permanent wie eine große Koalition abstimmen müssen, um überhaupt Gewicht zu haben. Das Politische hat in der EU also eigentlich nie stattgefunden. Der Widerstand gegen TTIP oder die Anti-Flüchtlings-Haltung sind eigentlich beides Rufe nach einer Rückkehr der Politikgestaltung.

Gilt das nur für die EU?

Nein, das erleben wir auch national. Der Graben besteht nicht zwischen Rechts und Links, sondern zum Beispiel zwischen Stadt und Land. Wenn Sie heute in Europa auf dem Land leben, haben Sie eine hohe Wahrscheinlichkeit, Globalisierungsverlierer zu sein, arbeitslos zu sein und populistisch zu wählen. Der Winzer wählt genauso FPÖ wie der Arbeiter, dem gerade die letzte Fabrik geschlossen wurde. Das System spaltet sich also in Globalisierungsverlierer und -gewinner. Dasselbe gilt für die USA. Auch Donald Trump hat eine Schließungs-Agenda und fordert "Geld und Jobs für die amerikanischen Arbeiter". Das alles hat mit einer Überforderung durch die neoliberale Agenda zu tun. Es geht also gar nicht um Europa an sich. Diese EU, die sozusagen über den Binnenmarkt und den Euro in unsere Wohnzimmer marschiert ist, ist eben kein politisches Projekt und konnte deshalb die Übergriffigkeit des Neoliberalismus staatlich nicht ausbalancieren. Wir haben im Maastrichter Vertrag einen Binnenmarkt und eine Währung geschaffen, ohne sie in eine Demokratie eingebettet zu haben. Wir haben Wirtschaftspolitik, Binnenmarktpolitik und Währungspolitik auf EU-Ebene und Sozialstaatlichkeit und Redistribution auf nationalstaatlicher Ebene. Wir haben Markt und Staat entkoppelt - das kann nicht funktionieren.

In Ihrem gerade erschienenen Buch träumen Sie deshalb von einer "europäischen Republik". Wie soll die konkret aussehen?

Vor vier Jahren habe ich aus einer Weinlaune heraus Postkarten drucken lassen mit der Aufschrift: "The European Republic is under construction" (Die Europäische Republik befindet sich im Bau). Anlass war der Zypern-Bailout. Mir war klar, dass hier gerade das ganze System vergewaltigt wird. Mit diesen Postkarten bin ich durch ganz Europa getrampt und habe sie in Cafés verteilt. Es hat mich überrascht, dass die meisten Leute eine positive emotionale Reaktion hatten. Mir ist klar geworden: Wenn wir in Europa ein politisches Projekt starten wollen, für das wir die Bürger auch emotional begeistern, müssen wir die Wortwahl verändern. Denken wir an "Republik Österreich" oder "République Française". Offenbar hat der Begriff Republik einen Resonanzboden, der für Bürger ganz intuitiv verständlich ist. Ganz egal, ob sie Ahnung haben von politischer Theorie.

Wie viel kann eine Änderung des "Labels" wirklich ausrichten?

Ich hatte die Chance, den US-amerikanischen Linguisten George Lakoff kennenzulernen, der die Kampagne für die Schwulen- und Lesbenbewegung in Kalifornien konzipiert hat. Vor Lakoff lautete deren Slogan "Right to Marry" (Das Recht, zu heiraten) und war erfolglos. Mit "Rechten" kann man in den USA nicht gut argumentieren. Er änderte also den Slogan zu "Freedom to Marry" (Die Freiheit, zu heiraten). Das hat funktioniert! Das heißt, wenn wir Europa erneuern wollen, müssen wir uns fragen, welcher Begriff kommt gut an. "Vereinigte Staaten von Europa" tut es nicht. Aber "Republik" schließt emotional eine Tür auf und dann können wir diskutieren.

Was bietet die Republik, was die Union nicht hat?

Ciceros Definition von der Republik ist ganz einfach: Die Republik besteht aus Bürgern, die sich auf gemeinsames und gleiches Recht einigen. Das gilt für europäische Bürgerinnen und Bürger derzeit nicht. Sie leben in Österreich, ich bin Deutsche - wir zahlen unterschiedliche Einkommenssteuer, unterschiedliche Vermögenssteuer. Die Sozialleistungen sind zum Beispiel zwischen Deutschland und Griechenland sehr unterschiedlich. Wir haben nicht einmal Wahlrechtsgleichheit, weil wir das Europäische Parlament nach unterschiedlichen Bedingungen wählen. Wir haben keine Gleichheit vor dem Gesetz. Der Maastrichter Vertrag von 1992 hat uns versprochen, wir seien eine Staaten- und eine Bürger-Union. Wir sind aber de facto keine Bürger-Union, weil wir als Bürger nicht der Souverän sind. Genau da liegt die Lebenslüge der Europäischen Union.

Die britischen Bürger stimmen demnächst "souverän" über den Brexit ab.

Wenn wir als Bürger der Souverän wären, könnte Cameron und das Vereinigte Königreich die EU verlassen - die Briten wären aber trotzdem noch europäische Staatsbürger. Sind sie aber nicht, weil die europäische Staatsbürgerschaft der britischen nachgelagert ist. Sie steht zwar im Maastrichter Vertrag, ist aber so viel wert wie Klopapier

Es ist übrigens auch eine Lüge, dass Staaten souverän sind. Es gilt immer noch der Spruch von Kurt Tucholsky: "Alle Souveränität geht vom Volke aus und kehrt so schnell nicht wieder." Wir Bürger sind als Einzelne souverän und geben unsere Souveränität an einen Staat ab. Ob das dann eine Republik Österreich ist oder eine Europäische Republik, das entscheiden wir selber. Aber wir müssen verstehen, dass die Nationalstaaten niemals Europa machen können. Das ist wie der Papst, der keine Büstenhalter verkaufen kann.