London. Die Leute im kleinen Supermarkt um die Ecke haben sich noch nie beschwert über den Typen, der immer die Zeitungen abfotografiert. Über die letzten paar Wochen hab ich mir so ein ganzes Erinnerungsalbum an denkwürdigen Schlagzeilen angelegt: "EU-Regeln liefern UK dem Terror aus" ("Daily Telegraph"). "Neue Bedrohung Ihrer Pension durch EU" ("Daily Express"). "Bedrohung des Familienlebens durch EU" (ebenda). "Checkpoint Charlies - EU öffnet die Schleusen für illegale Einwanderer" ("The Sun"). "Europäische Kriminelle - frei, in England zu leben" ("Daily Telegraph").

Das Klima in diesem Land ist, wie man merkt, sicher kein gesundes. Dabei hat die Fußball-EM gerade erst angefangen. Wenn man das Radio aufdreht, hört man Leute, die letztes Jahr noch gemeinsam in den Unterhaus-Wahlkampf zogen, einander Lügner und Fantasten nennen. Und in TV-Werbeblöcken laufen düsterste Machwerke der auch hier endgültig angebrochenen Ära der Post-Wahrhaftigkeits-Politik. So tönt etwa die "Leave"-Kampagne beharrlich, Großbritannien zahle pro Woche 350 Millionen Pfund an Brüssel (ungefähr 450 Millionen Euro, was allerdings Großbritanniens Rabatt nicht berücksichtigt; netto ist es weniger als die Hälfte). Völlig egal, wie viele wutentbrannte Ökonomen offene Entgegnungen schicken, denn Expertenmeinungen sind in diesem Kontext per se suspekt, zumal die Brexit-Fraktion sehr erfolgreich ihr Narrativ einer Verschwörung des Establishments durchgesetzt hat.

Ex-Tory-Chef Iain Duncan Smith zum Beispiel, bis vor kurzem als Work and Pensions Secretary noch Oberzuchtmeister der Austerität und jetzt Robin Hoods engster Gefährte, bezeichnet sämtliche Wirtschaftsprognosen als "grundsätzlich falsch" und reinste Wahrsagerei. Dann wieder meint er, wirtschaftliche Einbußen wären ein Preis, den es sich für die Selbstbestimmung zu zahlen lohne. Und schließlich sagt er mit Sicherheit voraus, dass die Wirtschaft weiterwachsen werde.

Man sieht, hier geht mittlerweile einfach alles.

Liebesbrief an das Vereinte Königreich

Vorige Woche hatte ich jedenfalls die seltene Gelegenheit, meinen eigenen bescheidenen Beitrag zu diesem Getöse zu leisten. Gemeinsam mit dem in Oxford lebenden griechischen Schriftsteller Apostolos Doxiadis und dem seit den 1980ern in London ansässigen französischen Fußballreporter und Songschreiber Philippe Auclair hatte ich in monatelanger E-Mail-Bettelei und mit viel Hilfe von Freunden und Bekannten eine Liste von in Großbritannien hochgeschätzten Europäerinnen und Europäern aus Kultur, Wissenschaft und Sport für die Unterstützung folgender defensivster aller Liebeserklärungen gewonnen: "Wir alle in Europa respektieren das Recht des britischen Volkes, zu bestimmen, ob es mit uns in der Europäischen Union verbleiben will. Es ist Ihre Entscheidung, und wir werden sie akzeptieren. Trotzdem, falls es den Unentschlossenen helfen sollte, sich zu entscheiden, wollen wir ausdrücken, wie sehr wir es schätzen, das Vereinte Königreich in der Europäischen Union zu haben. Es sind nicht bloß Verträge, die uns mit Ihrem Land verbinden, sondern Bündnisse der Bewunderung und Zuneigung. Wir alle hoffen, dass Sie dafür stimmen werden, diese zu erneuern. Britannien, bitte bleib."

Weniger anmaßend geht gar nicht, das fanden unter anderem auch Elena Ferrante, Patrick Süskind, Elfriede Jelinek, Arséne Wenger, Nana Mouskouri, Costa Gavras, Julie Delpy, Isabella Rosselini, Hans-Joachim Rödelius, Alfred Brendel, Björn Ulvaeus von Abba und noch rund 140 andere mehr. Das ehrwürdige TLS ("Times Literary Supplement") hatte für diese Aktion eigens einen Cartoon bei Grüffelo-Illustrator Axel Scheffler bestellt: Britannia auf der grünen Wiese über den Kreidefelsen von Kent, den Degen in der Hand, macht sich bereit, das Band zu kappen, das ihre Insel mit dem Kontinent verbindet. Neben ihr sitzen Löwe und Einhorn, die königlichen Wappentiere. "Sie wird es doch nicht tun, oder?", fragt der Löwe. Das Einhorn blickt besorgt.

Alles sehr schön, aber mein kleiner Supermarkt führt ein strikt auf sogenannte kleine Leute zugeschnittenes Zeitschriften-Sortiment, und da passt das TLS, wie ich feststellen musste, offenbar nicht hinein.

Typisch kontinentaler Fehler, wieder einmal nicht die Klassengesellschaft mitgedacht, dachte ich, und lief auf der Suche nach einem Print-Exemplar den Hügel runter ins Stadtzentrum von Canterbury, das um diese Jahreszeit nur so überquillt vor Sprachschülern aus Europa. Der Bildungs-Tourismus ist eine der wichtigsten Existenzgrundlagen dieser Stadt, neben ihren drei Universitäten mit zigtausend ausländischen Studenten. Doch der örtliche Parlamentsabgeordnete, ein schon seit 1987 auf diesen Posten abonnierter Mann namens Julian Brazier, den man manchmal in pflaumenfarbenen Hosen und kariertem Jagd-Jackett aus dem Kent & Canterbury Club stolpern sieht, ist selbstverständlich pro-Brexit.

Seine Erklärungen dafür schwanken zwischen dem Kampf gegen die Billiglohn-Konkurrenz für die örtlichen Obstpflücker (bisher nicht seine größte Sorge) und der Gefährdung britischer Truppen durch die Putin-feindliche Außenpolitik der EU (an der Nato findet er aber nichts falsch). In Wahrheit tobt unter den Tories ein gnadenloser Geschwisterkrieg, dem sich niemand entziehen kann. Und nachdem der alte Brazier wohl selbst weiß, dass er auch unter einem künftigen Premier Boris Johnson keine Regierungskarriere mehr machen wird, tippe ich bei ihm auf zutiefst emotionale, ja vielleicht sogar ideelle Motive.