"Eine verstörende Versuchung"

Die undemokratischen Aspekte des britischen Mehrheitswahlrechts einmal ausklammernd, preist Fraser die von der Allmacht der EU bedrohte britische Tugend, seine Regierung bei Nichtgefallen loszuwerden. Widdecombe nickt dazu ebenso enthusiastisch wie Fraser zu ihren Brandreden gegen die lästigen Regulierungen der EU und für die Freiheit, sich nicht länger von europäischen Bürokraten und deren Gerichten in seinen Wohlfahrts- und Rechtsstaat dreinreden zu lassen.

Fraser, immer noch nickend, kann sich scheinbar nicht erinnern, was die Hardlinerin Widdecombe in den 1990ern in ihrem Job als Staatssekretärin im Department of Employment oder später als Staatssekretärin für das Gefängniswesen darunter verstanden hätte.

Wie viele in der britischen Linken, die bis vor kurzem noch die EU der Delors-Ära als positiven Einfluss auf britische Regierungen idealisierten, markiert für ihn das Verhalten der Troika gegenüber Griechenland den Punkt, da Europa sein wahres, brutales Gesicht als neoliberales Terror-Regime zeigte. Inwieweit ein britischer EU-Austritt den Griechen helfen soll, vermag er auf Frage aus dem Publikum allerdings auch nicht zu sagen: "Die Griechen sind imstande, da ihren eigenen Weg raus zu finden."

- © Peter M. Hoffmann
© Peter M. Hoffmann

Die Möglichkeit, auf europäischer Ebene solidarisch aktiv zu werden, kam der britischen Linken traditionell kaum in den Sinn. Und wenn, dann sehr spät: "Another Europe is Possible" heißt eine Kampagne, die sich erst vor zwei Wochen im University College London zu einer öffentlichen Konferenz traf: Auf dem Podium die einzige grüne Unterhaus-Abgeordnete Caroline Lucas, Labours Schattenschatzkanzler John McDonnell, Kolumnist und Autor Owen Jones ("Chavs", "The Establishment") sowie Yanis Varoufakis.

Im Gründungs-Statement des Bündnisses steht, man wolle "die Kampagne für ein ‚In‘-Votum mit Argumenten für ein alternatives Wirtschaftsmodell kombinieren" und für "weitreichende demokratische Reformen europäischer Institutionen" eintreten. Bisher ist aber fast nichts davon in den von rabiaten "Blue on Blue"-Attacken unter Tories dominierten Medienmainstream vorgedrungen. Laut parteiinternen Umfragen weiß die Mehrheit der Labour-Stammwählerschaft nicht einmal, dass ihre Partei für einen Verbleib in der EU eintritt. Nach all den Prognosen, Anwürfen und Rundumschlägen droht sich das Referendum in den vergessenen Winkeln Großbritanniens also zu einer zutiefst romantischen Frage zu kristallisieren, die so nicht auf dem Stimmzettel steht: Wollen wir den Status quo, oder fangen wir irgendwo in den Siebziger Jahren noch einmal von vorne an?

David Cameron dabei zuzusehen, wie er mit rotem Kopf und glänzender Stirn gegen diese tiefe Sehnsucht anpustet, wird zunehmend schmerzhafter. Selbst ein zutiefst europhiler Romanautor wie Simon Mawer ("The Glass Room") tweetete neulich: "Das Problem ist: Die schnellste Art, Cameron loszuwerden, ist im Referendum für einen Austritt zu stimmen. Eine verstörende Versuchung. Ich wünschte, er könnte die Klappe halten." Doch dafür ist es längst zu spät.